Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
Vom Netzwerk:
unerfreulichen Tatsachen seines Lebens brauchte. Im Laufe der Jahrzehnte änderte sich auch der hypothetische Inhalt. Das, was er der Menschheit sagen wollte, war zuerst eine edle Botschaft, von der er nicht mehr viel wusste. Die weiteren Versionen wechselten zwischen Erbitterung und Erbauung, je nachdem. Wie ein Flaschengeist, der seine besten Jahre in einer Flaschenzelle verschmachtet und, um sich zu zerstreuen, seinem eventuellen Erlöser mal eine ausgiebige Belohnung verspricht, mal es sich anders überlegt und ihm für sein Zögern eine ausgeklügelte Strafe erdenkt, wechselte Waidegger seine Erwiderungen, die er regelmäßig für die Preise verbrauchte, die er »ersatzweise« bekommen hatte.
    Er dachte heute an seine Stockholmer Rede, um sich von der unerfreulichen Tatsache abzulenken, dass er seit Wochen an einem Text schrieb, ohne etwas zu schreiben, was ihm gefiel. Eine rauchfarbene Katze schaute an ihm vorbei aus dem Gebüsch. Sie lauerte auf einen Häher. Er sah die Katze und hatte (freilich ohne jede Zusammenhang) seine Geschichte im Griff. Es ging um eine junge Frau, die ihre Lebenslust an einer sinnlosen Liebe verbraucht. Alles nahm seinen Platz ein. Auf dem Papier (er schrieb mit der Hand, war stolz darauf) erschien eine lächelnde Laura (ein Grübchen auf der linken Wange ließ ihr Lächeln ironisch aussehen). Ein unangenehmes Gefühl, das ihn kratzte, wenn er an Laura dachte, Reue wegen ihrer leisen Treue und Wehrlosigkeit, meldete sich nicht. Im Gegenteil: er dachte gerne an sie. Ein sinnloser Übergriff auf und ein sinnloser Eingriff in das fremde Leben wurden sinnvoll. Die Katze scheuchte den Häher auf.
    PAPIERENES MÄDCHEN / SINGENDER TOD
    Der Spatz wurde von einer Elster verscheucht. Die Elster wollte durch das Fenster, weil auf dem Fensterbrett innen ein Taschenspiegel lag und blitzte. Sie brauchte ihn.
    Fjodor war es gelungen, Natascha zu verstehen zu geben, dass sie Musik einschalten müsse. Er hoffte, sie würde den dreisten Trommelrhythmus übertönen.
    Aber der kam von allen Seiten. Gib mir Zeit, du , dachte Fjodor ihm entgegen, ich werde dich noch fangen . Abschiedsgedichte , dachte er entsetzt.
    »Der Sonnenaufgang wie ein Dompfaff« – sang die Sängerin, die Natascha aus ihrer Kommune-Zeit mochte.
    »Natascha, du musst aufschreiben, mach deinen Laptop auf, hör zu:
    In Windeln,
    wenn du dein Leben beginnst,
    schwebt es vor dir wie ein Poster
    in einer Metzgerei:
    Farben und Figuren,
    auch Zahlen und nummerierte Legende.
    Die Kuh steht in Erwartung
    ihrer Zerteilung.
    Das Leben aber geht seinen Gang:
    Die Teile ändern ihre Formen und verrutschen.
    In der Mitte des Lebens
    wird aus der Kuh ein Fabeltier,
    das dich vorwurfsvoll anschaut.
    Im Winde klirrend.«
    Die Elster gab ihre Versuche, den Spiegel zu klauen, nicht auf. Sie pickte an die Scheibe, schüttelte vorwurfsvoll den Kopf und pickte aufs Neue. Niemand beachtete sie. So gesehen gab es sie gar nicht.
    PAPIERENES MÄDCHEN / SINGENDER TOD
    Andreas schaute, wie spät es war, und dachte, dass er leider nicht auf Laura warten könne, er ging und vergaß die Balkontür zuzumachen. Die Katze war wieder da, kam herein, sagte ihr »amiaugo, amiaugo«. »Ich ruf dich morgen an«, dachte Andreas, die sich ineinander spiegelnden Töne des graublauen und perlgelben Berliner Morgens nicht beachtend.

    ♦

ICH WERDE SAGEN: »HI!«
    1.
    Ich werde sagen: »Hi…«, dachte Moritz.
    Ein dunkles Mädchen. Schwarze Fischchenkontur um jedes Auge. Schweres Haar hinter den Ohren. Pony bis zur Mitte der Stirn. Der Hals ist etwas kurz geraten, sodass die Schultern unsicher hochgezogen scheinen und das Lächeln ebenso unsicher wirkt. Gelenke schmal, Arm- und Knöchelreifen bunt –
    Moritz zerlegte das Bild in Einzelteile, um es besser festhalten zu können: Ein unsichtbares Mädchen, das über die Straßen des Städtchens lief, in dem Tante Anita lebte. Tante Anita ging die Treppe herunter, öffnete die Tür in den Garten, um die warme und stickige Blütenluft ins kühle Haus zu lassen, und legte ein Blatt Papier vor Moritz auf den Küchentisch: »Sag mal, was besser ist: ›Sie‹ oder ›Du‹? Wir führen ein neues Produkt ein ( coproduction mit unserem amerikanischen Partner). Ich muss die Übersetzung für den Flyer freigeben.« Moritz las den Text und sagte: »Mach ›Du‹. Das ist vertraulicher.« Anita las vor, bei jedem »Du« oder »Sie« zeichnete sie sich ein Luftkomma hinter das Ohr, um eine akazienhonigfarbene Haarsträhne zu

Weitere Kostenlose Bücher