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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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Herzchen und Sternchen, von denen Natascha nachts träumte, sie hätten sich zum Kleid ihrer Mutter zusammengetan, die endlich gekommen sei, um sie abzuholen. Später sollten grobleinene Borten, die keinen Zugang zu Nataschas Träumen hatten, den Jacken einen modischen Look verleihen. Tante und Onkel setzten die Jacken über Kioske ab und ernährten so ihre Kinder plus Natascha, die sie aufgenommen hatten, nachdem Nataschas Eltern infolge ihres Versuches, die Chancen des wilden Kapitalismus zu nutzen, von der »Konkurrenz« umgebracht worden waren ( Natascha Snegirjowa hatte eine schwere Kindheit, du blöde Henne, shut up, dachte Natascha).
    Wenn du als sechzehnjähriges Mädchen den ganzen Tag am Bahnhofskiosk stehst, bist du … Na ja. Bald hatte Natascha einen Liebhaber, der sie wenigstens vor den anderen Bewerbern beschützte. Nachts las sie alte Englisch-Schulbücher. Nicht, dass sie wirklich einen Traum hatte, nach Amerika oder sonstwohin zu reisen (man erzählte immer wieder Geschichten von Mädchen, denen man eine Modelkarriere im Ausland versprach und die stattdessen an westliche bzw. östliche Bordelle verkauft wurden). Sie baute sich aus einer fernen Sprache eine Einfriedung gegen ihre Stadt, ihren Liebhaber, die Zeitschrift »Burda«, die ewige Jagd aller nach Geld, nach Lebensmitteln, nach Klamotten, nach Dingen, die sich sinnlos anhäuften und der elende Prunk der Armut wurden. Sie aß so wenig, dass sie die Jeans und T-Shirts ihres jüngeren Cousins tragen konnte, nachdem sie ihm zu klein geworden waren.
    Einmal im Sommer bekam sie einen zerknüllten Zettel mit einer Adresse in Petersburg: von einem dieser Typen mit langem Haar, ausgetrocknetem Leib und diversen Bändchen und Kettchen, die dich nach etwas Kleingeld fragen. Sie hatte kein Kleingeld, überhaupt kein Geld, aber ein Einkaufsnetz mit Brot, Birnenmarmelade und Äpfeln. Der lange Tag des kurzen nördlichen Sommers ging unauffällig in die milchtrübe Nacht über. Brot, Marmelade und Äpfel wurden gegessen, Bison, wie er sich vorgestellt hatte, sprach die ganze Zeit, und Natascha war fasziniert von der fernen Welt, die sich hinter seinen Reden und seinen teilweise unbekannten Wörtern abzeichnete. Es beeindruckte sie auch, dass er keinen Versuch unternahm, mit ihr zu schlafen. In der Morgendämmerung ging er »on the road«, um auf die ersten Lastwagen zu lauern, und gab ihr diesen Zettel, den sie ein halbes Jahr als Lesezeichen in ihrem Englischbuch versteckte.
    Sie konnte nicht ahnen, dass der Ticketverkäufer direkt aus seinem Schalter heraus Ljoscha, ihren Liebhaber, anrufen und ihn davon unterrichten würde, dass sie in einer Stunde nach Petersburg aufbrechen wollte. Sie überlebte, eine hässliche Narbe oberhalb ihres linken Schulterblattes blieb, Ljoscha kaufte sich bei der Miliz frei und beschaffte Natascha ein neues Ticket, damit sie keine Klage erhob. Sie nahm das Ticket, für das erste, verfallene, hatte sie ein halbes Jahr gespart.
    Tante und Onkel schimpften, sie sei ein undankbares Miststück, und die Vettern und Cousinen sahen sie neidisch an. Sie fuhr leichten Herzens, am liebsten hätte sie keinen von ihnen wiedergesehen. Aber ein feines Gift, das Schuldgefühl einer Entlaufenen, hemmte, neben der Angst einer Entlaufenen, ihre Freude.
    Natascha stand vor der Tür und ihr Herz stand ihr in der Kehle und versperrte den Atem. »Wen? Bison? Er ist lange nicht hier gewesen«, sagte eine lange hagere Frau mit langem schwarzen Haar und weißen Strähnen darin, drehte sich um und ging in den langen breiten Flur, im Gehen ausrufend: »People, hier ist eine von Mischa Bison, er hat ihr Unterkunft versprochen, wer hätte Platz?«
    In all den Monaten, die Natascha dort verbrachte, konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen, über wie viele Zimmer diese riesige verfallene Wohnung verfügte, die ihre Bewohner Kommune nannten. Natascha wurde von Janis beherbergt, das bedeutete, Janis räumte etwas Platz frei zwischen gestapelten CDs, Büchern und Souvenirs wie Gänsefedern aus Kunststoff mit Signatur von Alexander Puschkin auf der Federfahne und Leinenhandtaschen mit aufgedrucktem Kruzifix. Sie durfte mit Janis auch den Arbeitsplatz teilen, also wieder als Kioskmädchen ein bisschen Geld verdienen. Am Anfang fühlte sich Natascha etwas verwirrt von all den Namen – Tanja Luna, Pascha Katholik, Andrej Wolke, Wasja Sputnik, Katja Känguru, die lange Frau, die ihr geöffnet hatte, hieß Ljuba Tornado; von all der Musik, Janis Joplin bei Janis

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