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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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kam er. Sie traf ihn auf dem Flur und dann mehrmals in der Küche. Er erkannte sie nicht wieder, und sie wollte das so sein lassen. »Hey, bist du nicht als Bisons Freundin hier einquartiert?«, fragte Ljuba Tornado, als sie alle drei in der Küche standen. Ich will sterben , dachte Natascha. »Ah, du, gut, dass du hier bist!«, sagte Bison, und Natascha erfuhr nie, ob er sich an sie erinnerte oder nicht. Zwei Wochen lang genoss sie das Privileg, Bisons Freundin zu sein. Er lag in Janis’ Zimmer auf einer Kameldecke aus seinem Rucksack und erzählte von seinen vielen Reisen und was ihm sonst so einfiel, wie:
    »Nicht der Körper ist ein Gefäß. Die Seele ist ein Gefäß für den Körper. Sie ist nicht drin, sondern draußen, eine Hülle. Der Körper ist wie der Wein im Krug. In eine Seele wird immer ein anderer Körper eingeschenkt. Wenn Inder oder Tibeter ihre Toten verbrennen, dann helfen sie deren Seelen, sich vom vergifteten Wein des Körpers zu befreien. Wer trinkt dann diesen vergifteten Wein, wenn wir sterben? Was glaubst du? Die niederen Dämonen? Ein Schamane hat mir erzählt, dass sich bei manchen Schamanen die Körperglieder von selbst verflüchtigen. Sie werden nach und nach durchsichtig.«
    »Ich muss jetzt aber weg«, sagte er, »ein Freund wartet auf mich. Er ist Schamane. Er musste einer werden. Weißt du, Nath, was die Schamanenkrankheit ist?
    SCHAMANENKRANKHEIT
    Es kommen zu einem Menschen die Geister und sagen: ›Werde Schamane!‹ Falls er das nicht will, verfolgen sie ihn und sagen wieder: ›Werde Schamane!‹ Er kann weit weggehen, studieren, einen Beruf ausüben, sie werden ihn einholen, er wird krank werden und sterben. Die Geister kommen dann zu seinem Verwandten, zum Bruder oder auch zur Schwester, und sagen: ›Werde Schamane!‹ Mein Freund hat in Moskau am Literaturinstitut studiert. Wollte Dichter werden. Hat nur zu viel getrunken. Und da kamen sie, die Geister.«
    Das war eine dieser Geschichten, aus denen das Band geflochten war, das ihre Gedanken an Mischa Bison band, seit sie ihn in ihrem Provinzstädtchen mit Brot, Äpfeln und Marmelade gefüttert und er ihr als Gegenleistung vom Schwarzen Meer erzählt hatte, wo man am Strand neben Kies auch Jade, Achat und Bergkristall findet. Oder von den Felsen Asiens, auf deren Halden und in deren Höhlen sich Gräberwachs bildet, ein Mittel der dortigen Heilkundigen, das entweder verharzter Kot von Fledermäusen ist, so sagen die einen, oder Bienenspeichel, so sagen die anderen, oder gar der Schweiß der Steine (er schenkte ihr einen dunkelbraunen, bitterriechenden Klumpen: »Solltest du dir mal den Arm brechen, wird das helfen.«). Als er aus der Kommune fort war, warf sie den zerknüllten Zettel mit der Adresse weg. Sie brauchte ihn (nachdem sie Bison drei Nächte nachgeweint und drei Tage taggeträumt hatte, »Nath, bist du okay?«, fragte Janis) wirklich nicht mehr, sie brauchte auch diese Behausung nicht mehr, sie hatte Programmierkurse absolviert und einen Job gefunden und konnte sich leisten, eine kleine Wohnung zu mieten. Als Janis gecheckt hatte, dass Natascha Programmierkurse besuchte, hatte sie mit der hochnäsigen Ironie, die die Kommunebewohner auszeichnete, gesagt: »Eine Woche ohne Joint – und schon kannst du Power Point.« Ich bin verrückt , dachte Natascha, als sie das Schuldgefühl einer Entlaufenen in sich registrierte.
    Sie war auf der Suche nach einer Wohnung, als Fjodor in die Kommune kam und Gedichte las, eingeladen von Pascha Katholik, der sich endlich von der Klapsmühlenkur zu erholen schien. Die anderen Dichter der Kommune wollten wissen, wie Pascha Katholik das gelungen war. »Nath«, sagte Max, »Fjodor war ein Samisdat-Star in der Sowjetunion, weißt du, was das ist? Weißt du, was Underground ist? War?« Fjodor las, und die Pappeln draußen im Regen applaudierten mit ihren grünen kleinen Flossen. Das Publikum drinnen wurde aufgeregt, verlegen und albern, merkte Natascha mit Staunen. Max sagte, durch die klirrende und sich in fließendes Wasser verwandelnde Fensterscheibe unklar was betrachtend: »Wäre nicht schlecht, jetzt nach draußen zu gehen und sich wenigstens zu erkälten.« Katmandu machte einen Kopfstand, nachdem er erklärt hatte, ein Mensch sei ein Stundenglas und neben dem Blut, das in den Adern fließt, gebe es da auch einen feinen Zeitsand, der irgendwann alle werde. Stehe man Kopf, riesele der Sand in die andere Richtung. So drehe man seine biologische Uhr zurück. Als das Gewitter seine

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