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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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pausenlos; von all den bunten Konservendosen, Mais, Wurst, von den unwahrscheinlichen Erscheinungen wie Avocados oder Kiwis, die sie zuvor nie gesehen hatte. Alle waren hungrig, die Lebensmittel waren knapp, Grundnahrung blieben Nudeln, Reis und Brot, immer kochte, aß und klatschte jemand in der gemeinsamen Küche.
    Wenn sich Natascha später an die Kommune erinnerte, ergab sich ein hinkender Falter daraus:

    Tür
Max
Korridor
Orakel / Apple / Känguru
Wolke / Katmandu / ???
Korridor
Linda / Ringo / Alex
Sputnik / Regenbogen
Korridor
Janis / Natascha
???
Korridor
Grace / Eule / ??? / ???
Tornado
Korridor
Tramper
Luna
Korridor
??? / Katholik
???
Korridor
???
Korridor
Rumpelkammer / Gästezimmer
Küche
Korridor
Klo / Bad
Küche
Küche
Küche
    Natascha dachte zuerst, dass sie in diesem Menschenwirrwarr unbemerkt bleiben würde, aber der scharfe kollektive Verstand hatte sie bald als Fremde identifiziert. Wenn sie gewöhnliche Dinge – Essen, Trinken, Kleidung, Armbänder, Wandposter – bei ihren gewöhnlichen Namen nannte, lachten die anderen sie aus. Wenn sie die hiesigen Slangwörter ausprobierte, lachten sie noch fröhlicher. Sie gab die Imitationsversuche auf und sprach betont korrekt und höflich, wie weiland ihre Literaturlehrerin, über die man erzählte, sie sei die Urenkelin eines im 19. Jahrhundert in das nördliche Provinzstädtchen verbannten adligen Aufrührers. Also sprach sie: »Känguru, würdest du mir bitte sagen, welchen Teller ich benutzen dürfte?« (»Bist du bescheuert, Nath, jeden, du kannst jeden Teller nehmen, solltest ihn allerdings danach waschen!«, antwortete Känguru). Sie verschenkte alle aufgebesserten Strickjacken, die sie mitgenommen hatte und die Tante und Onkel nicht mehr brauchten, weil sie zu Besitzern einer Imbissbude geworden waren (»Danke, Nath, ich verschenke meine Sachen auch immer, man darf an den Sachen nicht hängen!«, sagten die Bescherten). Und nachdem sie einmal einen Jimi-Hendrix-Song nach Gehör übersetzt hatte (war nicht schwer: kein Sonnenschein kommt durch meine Fenster, als säße ich am Boden einer Gruft), behandelte man ( People ) sie mit Achtung, der ein Hauch Herablassung beigemischt war.
    Man nannte sie hier Nath, der Name passte gut zu ihr: In Jeans und Sweatshirt ihres jüngeren Cousins, ungeschminkt, mit kurzen Haarfransen und abgeknabberten Nägeln sah sie wie ein Straßenjunge aus.
    Mit der Stadt hatte sie sich sofort angefreundet. Bereits als sie vom Bahnhof aus die Kommune suchte. Aus den grauen Dezemberrauchpartikeln traten die Ecken ihrer Plätze hervor, muskulöse Atlanten, Erker, Maskarone, Putten, Löwen offenen Mauls, Löwen geschlossenen Mauls, Pferde mit und ohne Reiter, Hufe, Nüstern, Gelock, die Kälte, die Unwirtlichkeit. Unwirklichkeit. Zwei ägyptische Sphingen, die vom hunderttorigen Theben am Nil zum schwarzen Newa-Wasser gebracht wurden. Zwei chinesische Wächterlöwen Shíshī, die von der Stadt Jilin am Fluss Sungari zum schwarzen Newa-Wasser gebracht wurden. Schnee, der alles überschüttete und, nachdem er auf den Oberflächen landete, klassische und barocke Formen annahm.
    Wenn sie frei hatte, ging sie stundenlang durch die dunkel leuchtenden Gassen, der braune Schneematsch und der Stoff ihrer Schuhe vereinten sich miteinander, sie kam zurück, tat ihre Schuhe auf den Heizkörper, wechselte die Socken, trank Tee und besprach mit Janis Neuigkeiten, kleine Romanzen, die sie hatten, große Romane, die sie lasen. Nach einiger Zeit wusste sie, wer hier ein Künstler, wer ein CD-Faker, wer mit unbekannten Absichten hier hängen geblieben war. Petersburg war oft das Gesprächsthema. Alle glaubten, eine besondere Beziehung zu dieser Stadt zu haben, jeder meinte, die einzige Person zu sein, die der Herausforderung, in dieser Stadt zu leben, gewachsen war. Einmal stand Natascha mit Pascha Katholik am Ufer der Newa, die aus ihrem Inneren ein dumpfes Licht aussandte. »Ich hasse diese Stadt!«, rief Pascha und sprang in das eisige Aprilwasser. Nach zwei Monaten Irrenanstalt konnte er keine Ruhe finden, in der Nacht hörte man ihn auf dem Flur hin und her gehen.
    Es gab wenige legendäre Oldies , die noch aus der Sowjetzeit stammten. Das waren alte Hippies, die wenigen, die noch am Leben waren und dabei nicht zu einem, wie es hieß, zivilen Lebensstil gewechselt hatten. Zu ihnen gehörte auch Mischa Bison, dessen zerknüllten Zettel, der ihr nichts mehr nützte, sie nicht wegwerfen konnte, als handle es sich um einen Liebesbrief. Einmal

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