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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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richten:
    »Wer kennt das nicht: Ein Kollege mit Mundgeruch macht den Büroalltag zur Qual. Eine zu laut sprechende Mitfahrerin im Zug verdirbt die Urlaubsvorfreude. Noch schlimmer ist es, wenn Sie (wenn du) im engen Freundeskreis oder gar in der eigenen Familie eine Person nicht leiden kannst. Man muss das ändern. Aber wie? Es liegt an IHNEN (an DIR). Du musst lernen, deinen Nächsten zu akzeptieren (sag mal, vielleicht besser: ›deinen Nächsten zu lieben‹?). Wir bieten ein Training für Menschen, die ihre Antipathien und Aversionen endlich überwinden möchten. Diskret und zuverlässig. Überzeugen Sie sich selbst: Sie werden ein glücklicherer Mensch!
    Ich weiß nicht, ich werde den Chef fragen. Oder den Pfarrer, er wollte den Flyer in der Kirche auslegen. Ok. Was wirst du heute machen?«, sagte Anita.
    »Ich nehme das Rad und fahre in die Stadt. Eis essen und so«, sagte Moritz.
    Er dachte wieder an das unsichtbare dunkle Mädchen, weil erstens ein gleiches, aber sichtbares, ihm eben sein Eis verkauft hatte. Das Mädchen war aus dem lichtlosen Schlauch der Eisdiele hinter der riesigen Wasserfarbenbox der von der Sonne beleuchteten Eistheke erschienen. In einem breit gestreiften Sommerkleid, in jedem Streifen ein Muster aus Vogelflügeln und -köpfen. Und zweitens, weil er mit dem Eis in der Hand vor der Gedenktafel stand, die erzählte, dass in diesem Haus vor hundertfünfunddreißig Jahren ein Kunst- und Kulturliebhaberverein gegründet worden sei, mit der Absicht, eine altägyptische Mumie für die hiesige historische Kunstsammlung zu erwerben. Leider sei die erfolgreich aus einem fernen Land herbeigeschaffte und dem »Natur- und Kunstmuseum« anvertraute Mumie später den alliierten Bomben zum Opfer gefallen.
    Man kann auch zweimal am Tag Eis essen, oder? Die Ähnlichkeit des Eis-Mädchens mit Figuren auf altägyptischen Sarkophagen ließ Moritz nicht los. Das unsichere Lächeln. Kleine Ohren vor dem Haar, das schwarz ist und glänzt wie die frisch gefirnissten Fachwerkbalken am Haus mit der Tafel. Ein leichter Vogelknochenkörper, der einer Pharaonentochter womöglich, der Jahrtausende überdauert hat, um im barbarischen Norden bis zum endgültigen Verschwinden mit Himmelsfeuer bespuckt zu werden. Ich nehme eine andere Sorte, ich werde sagen: »Hi, das Eis war …« Nein, das ist blöd, ich werde sagen: »Hi…«
    Das Fachwerkhaus mit seinen Inschriften und Schnitzereien war im Frühjahr fünfundvierzig als einziges auf diesem Platz heil geblieben und glich nun einem alten Zahn zwischen frischen Kronen und Brücken, dachte Moritz unter dem Eindruck des Abendbrots vom Vortag, das von einem munteren Tischgespräch über Kronen und Brücken begleitet worden war, weil Tante Anita und Onkel Robert anlässlich Onkel Roberts neuer Zähne Meinungsverschiedenheiten hatten. Es war im späten Mittelalter ein Apotheker-Haus, eines der prächtigsten Gebäude des Städtchens, und heute ein Museum. Da war auch der Raum zu besichtigen, in dem die feierliche Auswicklung stattgefunden hatte, geleitet von einem angesehenen Ägyptologen. Die in den Leinenschichten gefundenen Ölfläschchen, Fayenceperlen, Mistkäfer aus Türkis und ein Spieglein aus polierter Bronze waren in der Bombennacht ebenso vernichtet worden. Auch die Papyrusrollen mit einem Unterweltführer, mit den Namen der Unterweltrichter und mit den Rechtfertigungsworten, die das Mädchen vor ihnen zu sagen hatte.
    2.
    Es war einmal ein kleiner Moritz, dachte Moritz, als er die matten, dichten und grün-orange gestreiften Strümpfe seiner Tante sah. Eines Tages, dachte Moritz, sah der kleine Moritz die golden gleißenden hauchdünnen Strümpfe seiner Tante Anita. Wie alt war er? – Nicht viel älter als vier. Das Gefunkel stimmte ihn fröhlich, er lachte und klatschte und schmiegte sich an ihr Bein. Die Oberfläche erwies sich als unangenehm, feingrießig und kratzig. Anita lachte, wodurch die Muskeln ihres Beines fester wurden, und sagte zu Moritz’ Mutter, ihrer kleinen Schwester: »Strümpfe haben doch etwas an sich, was? Sie locken die Jungs einfach herbei, sogar die Knirpse.« Die Begeisterung, die der Seidenglanz in ihm geweckt hatte, wurde ihm peinlich. Er fühlte sich angegriffen und gekränkt, ohne zu ahnen, warum sie lachte. Oder doch? Wie auch immer. Seitdem wich er Anitas Berührungen aus. Wohl aus Rache. Aber seine Aufmerksamkeit folgte ihrem Parfum, wie ein Straßenkater dem Selchwurstgeruch aus einer Einkaufstasche folgt, bis diese im

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