Mörikes Schlüsselbein
seufzte fröhlich: »Oh, wie schön! Besonders schön ist es, dass wir das heute machen!«
»Was meint sie«, flüsterte Pawel, »heute ist Fjodors Todestag, wann sonst sollten wir das machen?«
Die Stiftungsvorsitzende setzte fort: »Besonders heute ist das hocherfreulich, denn heute ist der Namenstag des Schutzpatrons aller Dichter und Sänger, des heiligen Märtyrers … äh …« Sie wusste nicht weiter. Sie hatte angefangen, ohne zu wissen, worauf sie hinaus wollte, in der Hoffnung, ihr würde schon etwas einfallen. Schon vor Beginn der Veranstaltung dachte sie, dass sie etwas Erbauliches und Russisch-Orthodoxes sagen müsste, weil die Stiftung durch einen stark gläubigen Oligarchen finanziert wurde. Sie stockte für eine Sekunde und fuhr fort: »… des heiligen Märtyrers, den wir alle kennen und lieben!«
»Ach ja«, flüsterte Pawel.
John nahm sein Notizbuch und notierte das Datum mit dem Vermerk: »Der heilige … wer? Gibt es einen solchen, mit diesem Namenstag und Schutzpatron der Dichter? Merken für Toms Semesterarbeit über die Wiedergeburt der Bigotterie im postsowjetischen Russland.«
Marina fühlte sich plötzlich wie ein Wilder, der nie zuvor einen Film gesehen hat: offensichtlich war Fjodor anwesend. Die Kamera erfasste ihn von hinten, wie sich seine lange Figur in hellgrüner Leinenjacke entfernte, zwischen Gräsern und Stauden, denen der Mittelmeersommer bereits alle Farben weggeschrubbt hatte, mit den schwerelosen provenzalischen Bergen im Hintergrund. Plötzlich drehte er sich um und sagte: »Was soll ich sagen? Ein Gedicht? Welches denn?«, und lächelte, unerwartet unsicher. Er war da. Er war hier. Zugleich wusste Marina, dass er nirgends mehr war, nirgendwo sein konnte. Dass es ihn nicht gab. Und nie mehr geben wird. Marina schüttelte ihren Kopf, wie ein von der Hitze ermüdetes Pony, das auf diese Weise versucht, die Bremsen von seiner Nase aufzuscheuchen. Seit Fjodors Tod machte sie ab und zu diese Gebärde und konnte diese neue Angewohnheit nicht loswerden.
Die Stiftungsvorsitzende sah auf die Uhr und verabschiedete sich (sie beugte sich im Vorbeigehen zu Marina und flüsterte: »Grüßen Sie bitte Frau Elegien von mir«). Die noch auf der Erde anwesenden Dichter begannen Fjodors unveröffentlichte Texte zu lesen.
Der eine las:
»Wozu man uns braucht? Wozu wir gut sind? Nachdem ein Gedanke entsteht, sucht er nach den Wörtern, um verkörpert zu werden. Sie ihrerseits kommen dienstbereit herbei, und da lauert die Gefahr, dass der Gedanke in einen falschen Körper hineinspringt. Die fertigen Sätze sind jederzeit bereit, einen frischen Gedanken zu verschlingen. Und eben darin besteht die Arbeit eines Dichters, die verbrauchten Schemen aufzuscheuchen. Sonst würden wir Gedanken denken, die nicht unsere sind; uns Gesetzen unterwerfen, die nicht unsere sind; Gefühle empfinden, die nicht unsere sind.«
Der andere las:
»Warum fing ich an, Prosa zu schreiben? Sie klopfen an mein Bewusstsein, wie Wanderer an die Tür eines Einsiedlers klopfen. Zum Beispiel eine Alte, die jede Nacht von einem Traum geweckt wird, in dem sie mit ihrem im Krieg gefallenen Bräutigam tanzt. Der Tanz kommt undeutlich vor, und ohne ihn zu identifizieren, kann ich nicht einmal sagen, in welchem Krieg er gefallen ist. Der Verlobte meiner Großtante wurde von einem deutschen Scharfschützen getötet, als er das Königsberger Schloss besichtigen wollte, schrieb in einem langen Brief sein Regimentskamerad, der dabei war, aber lebend davon kam. Man nannte diese einzelnen Scharfschützen in bereits eroberten Städten Werwölfe .«
»An welche Tür klopft sie jetzt, diese Frau mit ihrem Bräutigamtraum, jetzt, wo Fjodor keine Träume mehr hat«, flüsterte Pawel.
Der dritte las:
»Alles wird berechnet: Romane, Filme, Bilder, alles verpackt und dem Publikum, dessen Vorlieben erforscht werden, angeboten. Ein von allen Seiten – nicht nur von der Werbung und der Politik – manipulierter Mensch liest, schaut, hört die Produktion, die genauso gut von Robotern erstellt sein könnte wie von Autoren, Musikern oder Künstlern. Wenn dieser von allen Seiten manipulierte Mensch zufällig ein Künstler, ein Dichter ist, dann erstellt er die Werke, die genauso gut ein Roboter schaffen könnte. Ein guter Roman muss heute eine mühsame Lektüre sein, unberechnet, vom Geschmack des Publikums nichts wissend. Das war nicht immer so. Aber vieles war früher nicht so. Ein genialer Schachspieler heute muss ein Verlierer sein.
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