Mörikes Schlüsselbein
dieses Bild zu Sowjetzeiten erzählte: Eine kritische Darstellung einer gefräßigen Blutsaugerin? Die Gruppe geht weiter, John, Natascha und Marina kommen näher an das Gemälde heran.
Natascha, die auch nach der Geburt ihrer Tochter wie ein unterernährter Teenager aussieht, mit ihren dunkelblonden kurzen Haarfransen und abgebissenen Nägeln, mit anämisch eingefallenen Wangen, sagt: »Das ist das Porträt meiner Seele.« John schaut sie an, nickt und sagt, die beiden seien einander in der Tat ähnlich. Wenn man dieser Frau das Feingebäck und die Früchte, die sie gerade isst, auf Dauer wegnehmen und sie dazu noch erschrecken würde, so dass der Schreck sie in ihren Alpträumen verfolgt, oder sie, noch besser, für eine Weile ins Straflager schicken würde, dann wäre sie zu einer Frau geworden, die als Nataschas Schwester durchginge. »Ja eben! Das habe ich gemeint«, sagte Natascha. Das Bild beunruhigte und beschäftigte sie:
»Ich dachte, nur wir, die Russen, trinken Tee aus der Untertasse. Aber wir haben das von den Asiaten mit ihren winzigen Tee-Schälchen, den ›Pialas‹. Die Wärme bleibt in der Tasse erhalten, in der Untertasse hat man angenehme Trinktemperatur. Aber John hat mir erzählt, dass das auch Engländer tun, oder taten, auf jeden Fall gilt das auch bei ihnen als vulgär: ›There is also the mysterious social etiquette surrounding the teapot (why is it considered vulgar to drink out of your saucer, for instance?)‹, fragte George Orwell, hat mir John gesagt.« Natascha übersetzte das für Marina, weil sie nicht sicher war, wie gut Marina Englisch konnte: »Es gibt auch die mysteriöse gesellschaftliche Etikette, welche die Teekanne umgibt (warum gilt es zum Beispiel als vulgär, aus seiner Untertasse zu trinken?)«
Marina war etwas eifersüchtig, dass John Natascha dieselben Geschichten erzählt hatte wie ihr seinerzeit, und sagte: »Wo hast du das gesehen? Ich meine, wer macht das heute noch?«
»Tante Mascha, Onkel, alle Meinigen; John hat mir deshalb davon erzählt, weil er merkte, dass ich mich ihretwegen schäme, auch wegen der Untertasse. Aber das hilft nicht. Und ich schäme mich natürlich, dass ich mich wegen meiner Verwandten schäme, da ist nichts zu machen«, sagte Natascha mit ihrer neuen Offenheit, die Marina seit Tagen beunruhigte und beschäftigte und die sie eher der egozentrischen Gleichgültigkeit gegenüber dem Gesprächspartner als dem Vertrauen zuschrieb.
Marina sah auf ihre Uhr: »Noch ein bisschen und wir kommen zu spät.«
♦
Als sie kamen, war der Saal (der sich in einem Dachboden befand) schon voll. Früher, zu Zeiten der Sowjetunion, als John und Fjodor jung, Marina sehr jung und Natascha ein glückliches Kind ihrer noch lebenden Eltern war, hatten hier die halboffiziellen Lesungen stattgefunden, an denen Fjodor als Dichter und Marina und John als Publikum teilgenommen hatten. Heute war der Dachboden (und das Haus darunter) im Besitz einer dieser Stiftungen, die, nach Pawels Worten, sich aus den vereinzelten Trümmern der gewesenen Diktaturen (allen, die Russland erlitten hatte, nicht nur der letzten) eine fantasielose Fantasiewelt bauten, eine Mischung aus offizieller Feierlichkeit, neukapitalistischer Angeberei und kirchlicher Bigotterie, eine rotierende Unendlichkeit, die ( hoffentlich , sagte Pawel) wenig mit dem wirklichen, sich ändernden und also endlichen Leben zu tun hatte. Aber auch mit den Verdiensten des einstigen Undergrounds wollte sich die Stiftung schmücken, deshalb finanzierte sie diesen Gedenkabend. Die Stiftungsvorsitzende begrüßte sie, insbesondere Marina, mit begeisterter Herzlichkeit. Seit Marina in einem Europäischen Kulturfonds angestellt war und Entscheidungen über gemeinsame Kulturprojekte mittreffen konnte, waren solche Damen wie die Stiftungsvorsitzende besonders verbindlich und herzlich ihr gegenüber: »Nehmen Sie bitte Platz in der ersten Reihe, Frau Bach! Sie, Frau Stern, natürlich auch, und Sie, Mister Perlman, gehen Sie bitte auf die Bühne, wir beginnen mit den Berichten der Übersetzer.« Marina und Natascha nahmen ihre Plätze neben Pawel und Tonja ein. Die Stiftungsvorsitzende betrat die Bühne und sagte:
»Wie schön, dass wir auch nach einem Jahr unseren Dichter nicht vergessen haben!«, und wartete auf Applaus, der auch folgte.
Fjodors französische Übersetzerin erzählte, sie habe während seiner Lesereise in Frankreich einen Kurzfilm mit ihm gedreht, den sie jetzt zeigen werde.
Die Stiftungsvorsitzende
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