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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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dies nicht mehr galt.« Marina nickte:
    »Einmal war Andreas in Petersburg, und wir waren zusammen bei Fjodor. Er lebte damals wieder bei seinen Eltern. Ein Zimmer zu mieten und in einer Gemeinschaftswohnung zu leben, war ihm auf Dauer zu anstrengend. Es lief schon etwas schief zwischen Andreas und Sabine, wir hier wussten aber nichts davon. Und ich hätte nie gedacht, dass ich wieder mal … na ja, egal. Fjodors Mutter aber, ich weiß heute noch nicht, was sie geahnt hat und warum, sagte mir (diskret, fast flüsternd, als ich ihr in der Küche half), ich müsse entschieden handeln, und sie erzählte, wie sie einmal dem Gejammer von Fjodors Vater, er hätte Sehnsucht nach seinen Kindern aus der ersten Ehe, Einhalt geboten hatte: Er solle gehen, sofort die Koffer packen und gehen. Und dass er seitdem nie wieder gewagt hatte zu jammern. Verstehst du, sie wollte mir helfen, mir aus ihrer Erfahrung einen Rat geben. Stell dir das vor!«
    Die eben noch klare Luft begann sich zu kräuseln.
    »Und einmal war ich bei ihm, ich weiß nicht, was da los gewesen war, bevor ich kam. Seine Mutter saß am Küchentisch, weinte leise und sagte immer wieder: ›Gut, ich werde nun davon ausgehen, dass ich keinen Sohn habe. Gut, ich werde damit leben müssen, dass ich keinen Sohn habe.‹ Ich weiß nicht, Fjodor heiratete erst nach dem Tod seiner Eltern. Er war immer allein. Als wären sie ein Hindernis gewesen.«
    So saßen sie am Grab, auf der blau gestrichenen kleinen Bank, und lästerten über die, deren menschliche Überreste unter dem schwarzen polierten Stein aufbewahrt waren. Gleich da, in einem dieser Nebenräume, die überall sind und voneinander nichts ahnen, die von uns und von einander durch undurchdringliche Raumteiler getrennt sind, saßen in einer blau gestrichenen Gartenlaube drei Gestalten: Fjodor und seine Eltern. Sie tranken Tee aus den Untertassen und lachten, besonders laut, wenn John und Marina besonders peinliche Einzelheiten aus ihrem irdischen Leben erzählten. Obwohl sie John und Marina weder sehen noch hören konnten. Nur über Fjodors Gesicht legte sich ab und zu ein feines Schattennetz, wenn John oder Marina seine Tochter Mascha erwähnten.

    ♦

    Die Flasche war leer. John war wach und nüchtern, was zu seinen antrainierten Fähigkeiten zählte: Er blieb nüchtern sogar dann, wenn er gerne betrunken gewesen wäre. Marina kämpfte sich tapfer durch chaotischer und energischer werdende Gedanken zu ihrem Gesprächspartner durch:
    »Sag mal, was hast du damals mit diesem Major gemacht? Weißt du noch, wen ich meine? Nein, sag es nicht. Ich will es nicht wissen. Hast du ihn beraubt? Aber nicht ermordet?«
    »Wie kommst du darauf?!« John war aufrichtig empört, die Vorstellung, er hätte den armen Teufel umgebracht, war so überraschend, dass er lachte.
    Er wechselte »beiläufig« das Thema und sprach davon, wie er, Fjodor, Marina und Andreas am Ende der Sowjetunion, als die damalige Weltordnung aus den Fugen war, eine Autostopp-Reise nach Mittelasien unternommen hatten. Es war eine dreiste Verletzung der Gesetze des zerfallenden Staates und ging weit über die erlaubte Bewegungsfreiheit der Ausländer hinaus.
    »Heute würde ich das nicht wagen, und nicht, weil ich alt geworden bin. Alles, was damals im Wandel war, ist wieder erstarrt.«
    »Nicht nur bei uns. Bei euch in Amerika würdest du so eine Reise auch nicht mehr wagen. Ich meine, mit dem Schlafsack durch das Land zu streunen.«
    »In Deutschland?«
    »Vielleicht. Ich glaube, das ist auch dort nicht erlaubt. Aber wohin willst du in Deutschland so großartig wandern? Schwarzwald? Machen wir im nächsten Sommer? Mit Andreas und Natascha? Die Erde ist wie ein Körper, der von einer Krankheit befallen ist. Ein Teil wird geheilt, dann ist der nächste Teil dran. Ich weiß nicht, wer eher dran sein wird. Vielleicht ihr. Vielleicht wieder wir.
    Weißt du, was mir in Berlin passiert ist? Ich habe mich beschwert wegen eines Pipimädchens bei der Sicherheitskontrolle, die frech und grob war und mir mit ihrem Suchding wehgetan hat, sie war einfach dreist, nein wirklich, sag bitte nicht, dass das blöd war, sich zu beschweren, das weiß ich. Ein Polizist hat aus einem Dienstzimmer eine weitere Frau geholt. Die lächelte selbstgefällig und rief die Göre. Die kam mit ihrer Vorgesetzten. Die zwei älteren beteuerten mir, dass das, was ich erzählte, überhaupt nicht wahr sein könne. Undsoweiter. Egal. Was ich erzählen will:
    Die Vorgesetzte der Göre sagte zu mir:

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