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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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Nicht die Züge und Kombinationen durchrechnen, die genauso gut von einem Rechner berechnet werden können, sondern seinen Gegner gewinnen lassen, aber ihn dabei mit Wagemut und scheinbarem Unsinn der Kombinationen irritieren, ihm eine Vorstellung von der unbegreifbaren Welt geben, die Grenzen des (Un)Denkbaren und des zu Denkenden weiter hinausschieben.«
    7.
    Eigentlich ein Wald. Marina wurde als Kind von Erwachsenen hierher mitgenommen, die sagten: »Heute gehen wir Tante Marusja besuchen«, oder nein, sie sagten, »Wir gehen die Unseren besuchen, dann auch zu Tante Marusja und noch zu den Matwejews.« Die »Unseren« waren alle an einem Ort, im selben Grab: Auf diesem alten Friedhof wurden keine neuen Grabstellen mehr vergeben, nur Graburnen durften beigesetzt werden. Sie war bereit, die Feierlichkeit der Trauer mit dem ganzen Ernst eines Kindes zu würdigen. Die Erwachsenen aber grenzten sie von der vermeintlichen Trauerfeierlichkeit ab. Sie durfte Wasser holen und Blumen gießen. Sie durfte zwischen den von der Sonne eingeschalteten Lichtsäulen der Bäume herumlaufen. Es war derselbe Friedhof, der andere Teil. Ich gehe heute nicht zu den Meinen, was soll der arme John damit. Nein, ich habe noch Zeit, nächste Woche vielleicht, ich gehe sowieso lieber mit meiner Mutter zusammen , dachte Marina.
    In diesem Teil besichtigte man die Gedenksteine verdienter Künstler oder Wissenschaftler, über die Begräbnisse hier wurde auf Stadtregierungsebene entschieden. Fjodor, ein inzwischen weltbekannter Dichter, war in seiner Heimat als Sprössling der inoffiziellen, nicht staatlichen Kultur auch jetzt nicht renommiert genug. Aber seine Eltern (dafür sorgte seinerzeit der Leiter des Orchesters, in dem sie spielten) waren hier begraben, neben dem Grab seiner Großeltern (der Großvater war ein angesehener Professor). Deshalb durfte Fjodors Graburne hier beigesetzt werden. Das war der unerwartet ehrgeizige Wille von Natascha. Alles wurde überragt von prächtigen Grabmalen aus dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Die Großkriminellen jener wilden Zeit waren die ersten, die sich aus den Trümmern der gewesenen Diktaturen eine fantasielose Fantasiewelt bauen ließen. Die alten Gräber wurden gerodet, um Platz zu machen für die gefallenen Wegbereiter der neuen Ordnung, der Bedarf war groß, mit Geld und Waffen ging alles. Jetzt standen sie da: bronzene muskulöse Schönlinge und marmorne Engel mit den Gesichtszügen der damaligen Popsängerinnen.
    Marina und John standen vor dem schwarzen Stein mit der goldenen Lyra und einem Lorbeerkranz darüber und mit den Namen von Fjodors Eltern. Später würde Fjodors Name dazu graviert (geplant war es zum Jahrestag, aber die Friedhofshandwerker sagten, es wäre erst in zwei Wochen möglich), bis dahin steckte ein Blattholzschild in der Erde und neben ihm ein verglastes Foto von Fjodor. Als Marina das sah, begann sie zu weinen und fast mit Lustgefühl in eine Hoffnungslosigkeit zu versinken. John sah, dass es ihr so ging, wie es ihm vor kurzem ergangen war. Als ihn Natascha zum ersten Mal hierher geführt hatte. Obwohl er keine Tränen weinte. Nicht, dass er sich geschämt hätte zu weinen. Seine Tränen waren in den Boden der Schamanenhütte versickert, als er nach dem Telefonat mit Natascha einen Schamanenkrautsud bekommen hatte und in eine Nacht voller Visionen gefallen war, von denen er lieber nichts mehr wissen wollte, die er aber nicht vergessen wird.
    Er setzte sich auf eine kleine lehnenlose Holzbank neben dem Grabstein, die von Natascha vor kurzem blau gestrichen worden war. Er holte aus seinem Rucksack eine Flasche Wodka in einer Kühlmanschette und zwei Pappbecher, stellte sie auf die Bank und wartete, bis Marina sich beruhigte. Die Russen trinken zum Gedenken an ihre Toten Wodka. Und eben nur Wodka. Wein darf es nicht sein. Auch Whisky nicht. Eine Art Aberglaube , dachte John, das wäre ein Semesterarbeitsthema für Beth . Der Wodka, den John über Nacht im Gefrierfach aufbewahrt hatte, war noch kalt. Marina trank und meinte, keine Wirkung zu spüren. Aber die Wirkung kam als Wunsch, sich über das dumme Grinsen des Seins zu beklagen. John , wollte sie sagen, ist das Leben es überhaupt wert, gelebt zu werden ? Sie sagte es aber nicht, schüttelte nur etwas abwesend den Kopf: ein erfolgloser Versuch, die unsichtbaren Bremsen abzutun.
    John fiel nichts ein, was er hätte sagen können, um Marina auf die Nachricht vorzubereiten, die er loswerden musste. Natascha wollte,

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