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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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doch: Eine Frau, eine Dame, die ihren Mann liebt, lässt sich von irgendeinem Dichter verführen und alle Erniedrigungen über sich ergehen. Irgendwann ist das vorbei, aber sie kann nicht zurück zu ihrem Mann, der sie immer noch liebt und den auch sie liebt. Ich weiß nicht mehr, wie das genau war, vielleicht war es ganz anders. Ich war sieben, nicht älter. Meine Eltern lebten noch. Am Ende sitzt sie in einem Schloss, in einem Turm über dem Ozean, und denkt an ihren Mann. Zwischen den beiden dieser blöde Ozean. Verstehst du, er, Fjodor, ist hinter einem Ozean. Aber ich muss dir unbedingt etwas sagen.«
    Marina dachte, dass sie auch das Kitschige an Natascha mochte. Dass sie nicht wollte, dass Natascha, die gerade die Tassen abspülte und alles an den richtigen Platz zurückstellte, bald ging. Aber es gab keinen Grund, sie länger hier zu halten.
    Natascha fühlte sich in Marinas Gegenwart leicht angespannt. Das brave Provinzkind, das immer noch in ihr steckte, sah in Marina eine ältere Person, die sie zu respektieren hatte und mit der sowieso nie eine richtige freundschaftliche Nähe möglich wäre. Als Fjodor noch lebte und Natascha sich aus seinem Freundeskreis ausgeschlossen fühlte, war Marina mit ihrem gleichgültigen höflichen Lächeln eine Art Ersatzschwiegermutter für sie gewesen (obwohl Marina zehn Jahre jünger als Fjodor war). Marina, die seit ihrer Kindheit fast nur ältere Freunde hatte, war diese Unmöglichkeit der Freundschaft seitens Natascha nicht bewusst.
    Als Natascha gegangen war, blieb eine sanfte Sehnsucht in der Luft. »Sehnsucht«, sagte Marina laut auf Deutsch. Diese Sehnsucht nach einem Menschen, mit dem du nichts anfangen kannst, weil dein Leben anders verläuft, mit anderen Menschen, die ihre Rechte auf dich haben, welche die Folgen aus alten Sehnsüchten sind.
    Die Pendeluhr schlug acht. Marinas Mutter hatte diese alte Uhr nach dem Tod ihrer Schwiegermutter verkaufen wollen, weil sie ihr unheimlich war: Es hieß in der Familie, die Uhr sei in der Todesstunde von Marinas Großvater stehen geblieben. Als die Großmutter krank wurde, fragte sie jeden Abend, ob man wohl nicht vergessen habe, die Uhr aufzuziehen. Trotzdem blieb die Uhr in der Nacht stehen, in der sie starb. Marinas Vater wollte die Uhr aber weiterhin behalten, sie war eines der sehr wenigen Andenken an die Seinen, die alle tot waren. Und er wollte dem Aberglauben nicht nachgeben. Nach seinem Tod dachte Marinas Mutter, tief in ihrer Trauer versunken, nicht an die Uhr. Freilich ging die Uhr nicht, als der Vater starb, aber wahrscheinlich hatte in der sorgenvollen Zeit seiner Krankheit keiner daran gedacht, sie aufzuziehen. Das tat Marina nach der Beerdigung und stellte sie in »Marinas Zimmer«, wie es damals hieß (heute nannte sie es »das Schlafzimmer«). In der Nacht folgte sie manchmal der Bewegung der matt glänzenden Scheibe und das war, als hörte sie dem Atem ihrer Mutter zu, und vergewisserte sich, dass alles in Ordnung war.
    Sie griff zum Telefon: »Andreas ich vermisse dich kannst du die Flugkarte umtauschen und schneller kommen es sind doch schon Semesterferien bitte das ist alles so entsetzlich hier Fjodor Natascha ich kann nicht mehr Pawel du kannst es dir nicht vorstellen und auch John ist irgendwie blöd geworden.«
    Es tat gut, diese unglückliche Stimme zu hören, weil ihre übliche Art zu sprechen ihm zu kühl, zu munter, zu trocken war.
    »Hör zu, ich fürchte, ich kriege keinen früheren Flug. Es geht nur um eine Woche. Ich würde das sowieso nicht schaffen, ich habe noch viel zu erledigen«, sagte er gegen sein Gefühl und gegen seine Wünsche.
    Marina legte auf und sagte: »Andreas«. »Sehnsucht«. »Natascha«. Und dachte, dass sie es sich lieber abgewöhnen sollte, laut zu sprechen, wenn sie allein in der Wohnung war, erschreckt von dem Bild einer alternden schrulligen Frau, die laute Selbstgespräche führt.
    4.
    »Würden Sie mich bitte für einen Augenblick entschuldigen, ich habe, glaube ich, den Wasserhahn nicht zugedreht«, sagt Pawel und geht durch den dunklen, vom Licht aus den geöffneten Zimmertüren durchschnittenen Flur, um sich das vierte Mal zu vergewissern, dass er den Wasserhahn zugedreht hat. Marina nickt und lächelt ernst und freundlich. Diese nach Bücherstaub riechende Wohnung blieb für sie ein Zauberwald, seit sie als kleines Mädchen hierher kam und die beiden Erwachsenen + eine Greisin (die heute nicht mehr lebt), die diese Welt bewohnten, zu bewundern begann. Wenn sie

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