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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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lange nicht hier gewesen war, vermisste sie die altkoreanischen Gedichte auf den vergoldeten Holztafeln, die vergilbten chinesischen Propaganda-Plakate aus der Mao-Zeit, die in den Ballettpositionen erstarrten Meißen-Schäferinnen und Yixing-Teekannen aus dem roten Ton der besten Töpfer der Ming- und Qing-Dynastie, manche mit eingeritzten Gedichtzeilen auf ihren Backen. Teegedichte, die Pawel immer gerne für sie übersetzte: Gedichte, reines Gespräch in der Mondnacht und Tee . Oder: Wenn der Tee duftet, selig ist das Dösen über einem Buch . Von Pawels Intelligenz, Achtsamkeit, Wachheit ist nichts verloren gegangen. Nur weiß er eben nicht, ob er den Wasserhahn zugedreht hat.
    Dafür kommt er jedes Mal mit einer neuen Idee aus der Küche. Auch jetzt:
    »Ein Kind wird irgendwann zurückgelassen. Es gibt so viel zu tun. Die Sachen, die zu erledigen sind, häufen sich an. Und Sie lassen dieses Wesen, das liebenswert und ernst ist, einfach zurück. Sie verzichten auf seine Aufrichtigkeit, seine Verletzbarkeit, seinen Wunsch, geliebt zu werden, weil all das Sie zu schutzlos macht. Sie bekommen andere, erwachsene Gefühle, auch einen anderen, erwachsenen Wunsch, geliebt zu werden, der viel raffinierter ist. Sie leben Ihr erwachsenes Leben. Und eines Tages kommt das Kind zurück. Oder Sie kommen, es abzuholen. Dort, wo es die ganze Zeit auf Sie gewartet hat. Wenn Sie bereit sind, es wahrzunehmen, treffen Sie auf das Kind, das Sie einst waren. Wenn Sie Glück haben, kann das früh passieren, noch bevor das Ihrer Geistesschwäche zugeschrieben wird. Dann nehmen Sie als Erwachsene dieses Kind bewusst bei der Hand und gehen mit ihm zusammen weiter, einander helfend, einander anerkennend.«
    »Du spricht von Kindern als von engelhaften Wesen. Wohin dann mit denjenigen, die Frösche aufblasen und Konservendosen an Katzenschwänze binden?«, fragt Tonja, die lautlos ins Zimmer kommt.
    »Das werden sie, wenn sie Glück haben, mit ihren erwachsenen Persönlichkeiten besprechen und durcharbeiten«, sagt Pawel.
    Tonja geht ins Schlafzimmer, Atem holen. Das ist kein unangenehmes Gefühl. Wie bei einem Luftloch im Flugzeug oder an der Schwanenbrücke; wie bei einem Sprung auf der Bühne: Du springst über einen Abgrund und weißt nicht, ob du den Gegenrand erreichst. Nach dem Gespräch mit dem Arzt weiß sie von diesem Kanarienvogel, der sich in ihrem Brustkorb eingenistet hat und von einer Sitzstange auf die andere hüpft: beide Füße zusammen, ohne die Anspannung, die eine solche Bewegung braucht: mal hin, mal her. Eine Aufziehzitrone.
    Sie schaut in den Spiegel. Da steht eine Frau, die nichts gemein hat mit der Frau an der Ballettstange, die sie kennt. Sie sagt: Das bin ich nicht , und geht zurück. Zum Heulen vollkommen , denkt Pawel, als er sie sieht, sie ist genauso unwahrscheinlich wie damals, als er sie zum ersten Mal gesehen hat: auf der Bühne. Sie bewegte sich im Tanz mit selbstsicherer Schnelligkeit und ähnelte dem Schriftzeichen »shī«, als hätte sie mehrere Arm- und Beinpaare:!
    Sie trinken Maulbeerwein. »Das graue Haar eines trunkenen Alten ist lächerlich«, lautet ein Gedicht aus der Tang-Dynastie, das Pawel gleich aufsagen wird.
    5.
    Viel Gesicht, dessen weiß-rosa Fleisch durch lächelnde Augen beseelt ist, auch der kleine Mund ist so anmutig, dass er zwischen der großzügigen Peripherie von Wangen und Kinn nicht verloren geht. Die umfangreiche russische Venus trinkt Tee aus der Untertasse, nach der alten Art der russischen Kaufleute. Vor ihr: Porzellan, Silber, Zuckerwaren und Früchte in adretter Anordnung. Aufgeschnittene Wassermelone. Eine Katze mit graugetigertem Rücken und weißen Pfoten schmiegt sich an die mächtige Schulter. Die Kaufmännin sitzt in ihrem Garten. In der Ferne ist ein anderer Tisch zu sehen, in einem anderen Garten, in einer blauen Gartenlaube, an dem eine ganze Kaufmannsfamilie sich dem Teetrinken hingibt. Noch weiter: viel Luft, weiße Kirchtürme, Bäume und Himmel mit rosa-weißen Wolken, aus denen auch der luftige Überfluss des Dekolletés und der Unterarme der Teetrinkerin geknetet zu sein scheint.
    Eine Museumsführerin erzählt ihrer Gruppe, dass das Bild 1918 gemalt wurde, als nachempfundenes verlorenes Paradies zur Zeit des Bürgerkriegs und der Hungersnot, und dass der Maler Boris Kustodijew in der Figur der Katze, die sogar die Untertasse mit dem Tee nicht aus den hungrigen Augen lässt, sich selbst dargestellt hat. Marina versucht sich zu erinnern, was man über

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