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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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dass er das erledigte.
    Marina wollte John fragen, ob er damals ein Verhältnis mit Fjodor hatte (als sie alle jung waren; damals hatten das alle im Freundeskreis aus einem eher unklaren Grund angenommen). Aber wie fragt man das? Und ist es noch von Bedeutung, nach so vielen Jahren? Und wenn es Fjodor sowieso nicht mehr gibt. Sie sagte:
    »Es ist ein Jammer. Ich habe Natascha kaum gekannt. Ich kenne sie im Grunde gar nicht. Ich dachte, ich hätte keine Schuldgefühle Fjodor gegenüber, die man angesichts des Todes immer hat, ich dachte, alles wäre perfekt sauber zwischen uns gewesen. Aber Natascha, ich hätte freundlicher zu ihr sein sollen.«
    Jetzt , dachte John:
    »Marina, ich heirate sie. Und wir ziehen zu mir.«
    Ein sanfter Stoß, etwas zwischen Eifersucht und Neugier, half Marina endgültig aus ihrer hysterischen Starre. Sie spürte wieder einen Hauch von Lebenslust.
    »Sag mal, und ihre Sekte?«, sagte sie.
    »You are joking«, sagte John. »Es gibt keine Sekten. Du und Pawel haben viel dazu gedichtet, zu all dem, was sie über sich erzählt hatte.«
    John würde gerne von Nataschas Lächeln erzählen. Ein kurzes Lächeln, das erscheint, wenn sie einen Scherz oder einen Gedanken ihrer Aufmerksamkeit wert findet. Ihre Augen werden dadurch heller und ihr Gesicht älter und selbstbewusster. Nachdem sie scheinbar teilnahmslos zugehört hat – plötzlich dieses schnelle Quittieren des Scharfsinns ihres Gesprächspartners, das den Gesprächspartner wach hält und ihn sich selbst so klug und geistreich sehen lässt wie seit langem nicht mehr. Aber kann man davon erzählen? Oder von einer Narbe oberhalb ihres linken Schulterblattes? Er sagte:
    »Wir warten noch ein Jahr. Sie meint, Puschkin hatte seiner Frau gesagt, sie solle zwei Jahre warten, danach durfte sie wieder heiraten. Als wäre das nun die Faustregel für alle.«
    Marina wollte natürlich fragen, ob er sich tatsächlich ein gemeinsames Leben mit Natascha vorstellen konnte. Kann er wohl, dachte sie.
    »Und Fjodors Wohnung?«
    »Sie wollte dort ein Museum für die inoffizielle Dichtung gründen, sie hoffte, jemand würde sie unterstützen, die Stadt, irgendeine Stiftung, ich weiß nicht. Aber du weißt ja, wie es ist, wen sie unterstützen. Dieselben Arschlöcher wie damals. Oder noch schlimmer.«
    Marina wollte protestieren, weil sie diese Behauptung, dass heute alles noch schlimmer wäre als bei den Kommunisten, vulgär und zynisch fand. Aber John korrigierte sich selbst:
    »Sorry, ich weiß, was du dazu sagen willst, du hast natürlich recht, ich lese zu viel Zeitungen. Und Natascha hat zu viele Verwandte. Sie sind jetzt alle da. Oder noch nicht alle, ich habe die Übersicht verloren. Sie leidet, wenn sie da sind, das kann ich auch gut verstehen, du wirst sie ja sehen. Und wirst es dann auch verstehen. Aber sie kann sie nicht wegschicken. Sie haben es sich da recht bequem gemacht. Ich meine, sie sollte die Wohnung lieber verkaufen, weil sie die Ihrigen sonst nicht rauskriegt. Aber sie will sie gar nicht rauskriegen. Na ja. Ich versuche diese kleine Einzimmerwohnung, die ich jetzt miete, für sie zu kaufen, damit wir eine Bleibe hier haben.«
    »Und was sagen deine Eltern dazu, dass sie nicht jüdisch ist?«
    »Sie werden sich freuen, dass ich überhaupt heirate. Glaube ich. Ja. Ich denke so. Sie haben schon jede Hoffnung verloren. Und Mascha, die Kleine, ist so hübsch, sie werden sie lieben. Außerdem ist es egal, was sie sagen. Ich bin bald fünfzig!«
    Aus Johns Augen sah sie ein schüchtern rebellierender Junge an. Sie kannte seine Eltern, zwei harmlose Rentner, deren schwerste Waffe verstohlene melancholische Blicke und Seufzer waren (sie wusste nicht, dass ihm seine Mutter einmal einen roten Spielzeugdampfer wegnehmen wollte). Wir sind die infantilste Menschheit aller Zeiten , dachte sie und sagte: »Fjodor und ich waren einmal zusammen hier, wir haben zuerst die Meinen und dann die Seinen besucht. Am Grab der Seinen sagte er: ›Ok, ihr wart mir schlechte Eltern, ich war euch ein schlechter Sohn.‹«
    John hatte auch etwas zum Thema »Fjodor und seine Eltern« beizutragen: »Natascha hat mir erzählt, dass Fjodor, als Mascha geboren wurde, sagte, er hätte sich immer gewünscht, seine Eltern, die eigentlich gar nicht zueinander passten, hätten sich nie getroffen. Die Tatsache, dass es ihn in diesem Fall gar nicht gegeben hätte, nähme er in Kauf. Das wäre ihm recht. Sehr sogar. Aber als er die neugeborene Mascha sah, wusste er sofort, dass

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