Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
vom Fenster los und schaute sie fragend an. Das Wasser kochte mittlerweile.
„Jetzt frag nicht, wieso ich nichts unternommen habe“, sagte Inga, nahm den Topf vom Herd und goss den Inhalt in die Kanne. „Das habe ich nämlich sehr wohl, nur hat niemand auf mich gehört.“
„Ich wollte nicht …“
„Oh doch, Harry Romdahl. Ich kann es deinem vorwurfsvollen Gesicht ansehen. Musst da draußen einiges durchgemacht haben. Das tut mir leid, aber…“, sie unterbrach und holte eine Flasche Scotch aus dem Küchenregal.
„… ich muss dir leider sagen, dass das leider erst der Anfang war.“
„Was?!“ Harry sprang auf.
„Tee?“, fragte sie erneut mit ruhiger Stimme und schenkte ihm in aller Seelenruhe eine Tasse ein, ohne dass er dazu kam zu antworten . Sie reichte sie rüber, kippte aber vorher wie selbstverständlich einen Schuss Whiskey dazu.
Harry nahm die Tasse. Er wollte nicht glauben, was Inga da eben gesagt hatte. Die Bilder der schlimmsten Nacht seines Lebens schossen erneut unkontrolliert durch seinen Kopf. Sturm, Blitze, Wasser, Wellen, Möwen, Schnäbel, rote Augen. Er versuchte seine Zehen zu bewegen und wurde durch das Stechen im linken Fuß darin bestätigt, dass er in dieser Nacht seine dicke Zehe tatsächlich durch einen Bolzenschuss verloren hatte.
„Nein, nein und nochmal nein. Egal was es ist. Ich mache da nicht mit“, stellte er klar und wurde dabei mit jedem Wort lauter und hysterischer, fuchtelte gestenreich mit den Händen in der Luft. „Sem, dieser … dieser Kerl ... Er … ein Killer ist der … Also, war er … Ist glaub‘ ich tot … Genickbruch … Also gestern … vorgestern … vor drei Tagen … die ganze Zeit mit der Waffe am Kopf und dann … Möwen überall … Todesangst … Ich hatte Todesangst, Inga … stundenlang…“
Er brachte noch einige verhaspelte Sätze heraus und wusste bald selbst nicht mehr, was er da von sich gab.
„Beruhig dich, Harry, nimm erst mal einen kräftigen Schluck.“ Inga, tätschelte ihm das Bein, dann setzte sie selbst die Tasse an die Lippen und Trank einen großen Schluck.
„Ah, es gibt nichts Besseres, zum Runterkommen“, sagte sie und nahm noch einen.
Es dauerte eine geschlagene Stunde, ehe sich Harry so weit beruhigt hatte, dass er wieder klar denken konnte und bereit war, sich zurück auf den Stuhl zu setzen. Inga schenkte ihm einen zweiten Scotch-Tee ein. Harry protestierte nicht. Er war zu geschlaucht, um zu widersprechen. Wenn man mehrmals beinahe zerfetzt, erschossen, gefressen, geschlachtet oder schlicht und einfach getötet worden war, dann kam es einem geradezu lächerlich vor, wegen einer Tasse Tee überhaupt den Mund aufzumachen. Die Ereignisse, die Harry hinter sich hatte, kratzten an der Psyche. Genau wie die Tatsache, dass Petr Stojic eine Schlägertruppe auf sein Krankenhauszimmer geschickt hatte, oder dass er aus dem Krankenhaus geflohen war und fürchten musste, von Viktor und den anderen verfolgt zu werden. Er war ziemlich sicher, dass er - nach jetzigem Stand der Dinge – nicht mehr mit einer Tracht Prügel davon kommen würde. Vermutlich hatte Petr bereits einen Termin im Krematorium vereinbart. Er war da grundsätzlich immer sehr konsequent gewesen. Und wenn die Jungs ihn schnappen würden, dann würde Harry sicher nicht tot in die Kiste gezwängt, die dort den Flammen übergeben werden würde … So viele unschöne Gedanken nagten an Harrys Nerven, dass er kurzzeitig fürchtete, doch wieder hysterisch zu werden und den Verstand zu verlieren.
Er riss sich nach Kräften zusammen, kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder mit dem Vorsatz nicht weiter zu überlegen, was passieren würde. Das ertrug er nämlich jetzt beim besten Willen nicht auch noch.
Die Ereignisse hatten sich schlichtweg überschlagen und Harry brauchte Ruhe, um sie ordnen zu können, bevor etwas Neues über ihn hereinstürzte. Er griff sich in den Nacken und massierte die verspannte Muskulatur.
„Tut mir leid Inga. Ich kann grade nicht weiter. Ich brauche eine Pause. Es geht nicht mehr. Ich muss nach Hause und ein wenig schlafen.“
Er stand auf und spürte die zunehmende Müdigkeit. Inga manövrierte ihn mit leichtem Druck zurück auf den Stuhl.
„Keine gute Idee“, mahnte sie. „Was glaubst du, wo man zuerst nach dir suchen wird?“
Sie sah ihn an und schließlich zog er eine kapitulierende Grimmasse. Inga nickte.
„Genau, deshalb bleibst du hier. Kannst oben unter dem Dach schlafen. Seit mein Junge aus dem
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