Mogelpackung: Roman
sich scheu im Hintergrund, mit ein paar Metern Abstand vom Ort des Dramas. Fredo klappte den schweren Mantel zurück und fächelte Gesche Luft zu, bis Briegel Schulz mit einer vollen Flasche zurückkehrte. Gesche schluckte gierig das dargebotene Wasser und ließ es auch zu, dass Fredo ihr damit die Stirn benetzte und den Nacken einrieb. Sie schien sich rasch zu erholen.
»Willst du den Mantel nicht ganz ausziehen?«, schlug Fredo vorsichtig vor. Gesche streifte bereitwillig den Mantel ab, dann rappelte sie sich, gestützt von Fredo, langsam hoch – es ging.
»Ich will nach Hause«, entschied sie.
Fredo wechselte einen skeptischen Blick mit Briegel, dann wandte er sich an Gesche. »Erst bringe ich dich zum Arzt, Gesche.«
»Das ist bestimmt sinnvoll«, stimmte Briegel zu, bevor Gesche protestieren konnte. »Und mach dir keine Sorgen um Daniel. Den kann ich nach Hause bringen, ich bin auch mit dem Wagen da.«
»Danke. Tschüs, Jungs. Komm, Gesche.«
Widerstandslos ließ sich Gesche zum Parkplatz und in den Mercedes eskortieren. Sie schwieg, während Fredo mit ihr vom Schulgelände rollte, und verlor auch auf der Fahrt durchs Städtchen kein Wort. Erst als Fredo den Wagen vor der Praxis des Dr. Lorenz einparkte, verschränkte Gesche die Arme vor der Brust und hielt sich am Gurt fest, als sei der ein Rettungsseil. »Ich geh da nicht rein.«
»Das ist Dr. Lorenz. Zu dem gehst du doch sonst auch!«
»Ich geh da nicht rein.«
Fredo stieg wortlos aus, ging um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür. Gesche hielt das Gesicht abgewandt und rührte sich nicht. Fredo löste ihren Gurt und wollte seine Großmutter gerade packen und vom Sitz heben, als ihm etwas feucht auf die Hand tropfte. Gesche weinte.
Fredo hielt erschüttert inne. Niemals, mit einer Ausnahme, hatte er Gesche weinen sehen. Dieses eine Mal war bei der Beerdigung ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter gewesen. Martin und Sabine, Fredos Eltern, gestorben bei einem Verkehrsunfall. Ein wirklicher, für alle fassbarer Grund zum Trauern, und obwohl Gesche damals ihr einziges Kind verloren hatte, war sie es gewesen, an der sich Fredo und sein Bruder Markus hatten aufrichten können. Jetzt zogen Gesches Tränen Fredo für einen Moment den Boden unter den Füßen weg.
Behutsam schnallte er seine Großmutter wieder an, schloss die Beifahrertür und stieg zurück hinters Lenkrad. Er ließ Gesche Zeit, bis die Tränen einfach versiegten und sie ihm wieder klar in die Augen sehen konnte.
»Wir gehen nicht rein. Aber du sagst mir, was los ist.«
Gesche suchte nach den richtigen Worten, versuchte es schließlich. »Ich … ich verschwinde aus der Zeit, Fredo. Einfach so. Von einem Moment zum anderen. Ich bin irgendwo hier, aber in mir bin ich ganz woanders …«
»Und denkst zum Beispiel, ich bin noch klein und du musst mich von der Schule abholen?«
Sie nickte. »Aber nicht nur so. Manchmal habe ich überhaupt keinen Plan. Bin raus aus der Zeit und finde keine andere, verstehst du? Und dann habe ich Angst … so große Angst …«
Fredo lief es kalt den Rücken herunter. Wenn ihm irgendetwas Angst bereitete – dann eine Gesche, die Angst hatte.
»Dann habe ich Angst, ich finde mich nie mehr wieder«, flüsterte Gesche leise und sah ihren Enkelsohn plötzlich bestimmt an. »Das will ich nicht, Fredo. Lieber will ich vorher sterben! Und ich will auch nicht, dass Dr. Lorenz das merkt. Und Karla und Tim auch nicht. Vor allem Karla nicht!«
»Was hast du nur immer mit Karla?«, wunderte sich Fredo.
»Sie ist noch nicht so weit«, äußerte sich Gesche kryptisch.
»Bringst du mich jetzt bitte nach Hause?«
19.
NEWSFLASH FAMILIE FRIED:
Fredo: Heute koche ich. Gesche hat Pause.
Tim: Karikatur eines lachenden Big Mac und einer flennenden Karla, Bleistift, schwarzweiß.
Karla: @ Tim: Friss die Fastfood-Reste von deinem Fußboden.
Im Eingangsbereich der Schule herrschte wieder einmal Stau, in der anschließenden Aula drängten sich die Massen – wie an jedem Tag vor Schulbeginn. In der Luft die Geräuschkulisse von tausend Geschichten, die der besten Freundin, dem besten Freund unbedingt noch erzählt werden mussten, bevor die Glocke zur ersten Stunde schellte und die wirklich wichtigen Dinge des Lebens für die nächsten fünfundvierzig Minuten unterband. Tim und Patrik berührte das Gedränge überhaupt nicht. Sie bewegten sich auf eigener Umlaufbahn.
»Du hast die ganze Nacht geschrieben?«, staunte Patrik. »Wow. Eine ganze Nacht am PC
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