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Mogelpackung: Roman

Mogelpackung: Roman

Titel: Mogelpackung: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Schröter
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mit mir, dachte Gesche. Ich gehe einfach stur vorbei und schere mich einen Dreck um diese Leute. Wie damals, als sie mit ihren Geschwistern auf Hamstertour losgezogen war. In der schlechten Zeit nach dem Krieg, die Bäuche voll Luft und dem bisschen Zeug, das es auf Lebensmittelmarken gab – wenn es denn überhaupt zu bekommen war. Raus aus Hamburg und versuchen, im Umland die Höfe abzuklappern, das war die einzige Rettung. Die Bauern hatten immer noch etwas, aber sie gaben es nicht gern. Es kamen auch zu viele, es gab zu viel Hunger. Wenn man etwas anbieten und gut verhandeln konnte, ja, dann …
    Mutter hatte nicht die Nerven dafür, Vater war noch in Gefangenschaft gewesen. Gesches Schwester Imke ließ sich viel zu leicht entmutigen, aber sie sah gut aus mit ihrer weizenblonden Mähne und dem Puppengesicht, damit ließ sich so manches harte Bauernherz erweichen. Leider standen meist die Bäuerinnen in der Tür, und bei denen zogen Imkes Qualitäten in der Regel nicht. Da wirkte schon eher der kleine Bruder Claus mit seiner ewigen Schniefnase und den dürren Armen und Beinen. Und wenn nicht, dann schlug Gesches Stunde. Tantchens Volksempfänger, Großvaters Manschettenknöpfe, Vaters Taschenuhr, Mutters Ehering, sie tauschte alles und kämpfte dabei an zwei Fronten: Erst zu Hause, wo es das künftige Tauschobjekt loszueisen galt – denn irgendjemand hatte immer etwas dagegen, dass ausgerechnet dieses Kleinod weggegeben werden sollte, und sperrte sich mit Hysterie und Kampfgeschrei. Dann bei gierigen Bauern, die alle glaubten, sie könnten die zierliche junge Frau mit den merkwürdigen Schlittenhundaugen locker über den Tisch ziehen – bis sie erlebten, dass diese Frau jederzeit über die aktuellen Preise informiert war, noch zäh verhandelte, wenn ihr Magen längst das Gespräch überknurrte, fluchen konnte wie ein Bierkutscher und zur Not lieber ohne Ergebnis den Hof verließ, als sich übervorteilen zu lassen.
    »Guten Tag, Frau Fried!«
    Wieder so eine. Nicht drum kümmern. Stur vorbei. Arme vor der Brust über dem Mantel verschlungen. Wie damals, als sie mit einer ganzen Speckschwarte, sechs Eiern und drei Pfund Butter am Hauptbahnhof in eine Schwarzmarktrazzia geraten war. Das ganze Zeug unterm Mantel, Arme vor die Brust, Nase nach oben und an allen Uniformierten vorbeigegangen, als sei überhaupt nichts. Hatte brillant geklappt, auch wenn der Fettfleck von der Schwarte nie mehr aus dem Mantel rausgegangen war und drei Eier hinterher Sprünge in der Schale hatten.
    »Erst kommt das Fressen, dann die Moral«, murmelte Gesche. Das war die Wahrheit, unumstößlich, und für ein paar Sekunden hielt sie sich innerlich an dieser Erkenntnis fest wie an einem Treppengeländer. Dann bröckelte alles weg, Imke, Claus, die Speckschwarte, Kälte und Hunger – und sie spürte die Gegenwart wie eine Hitzewelle in sich aufsteigen. Was mache ich hier, fragte sich Gesche plötzlich, wohin will ich eigentlich, wo bin ich?
    Da hinter den Häusern ist der Kirchturm, erkannte sie. Da sind die Geschäfte, wenn ich einkaufen will. Wahrscheinlich will ich einkaufen, sagte sich Gesche. Aber was eigentlich? Sie blieb stehen und betrachte ratlos den Einkaufsbeutel, der leer an ihrem Arm hing. Kein Zettel darin, auch nicht in ihren Manteltaschen. Gesche verspürte eine leichte Panik und wieder aufsteigende Hitze. Zumindest die Hitze war real. Kein Wunder, du dämliches Stück, schalt sich Gesche, die Sonne scheint, und du trägst einen Pelzmantel. Doch anstatt den Kragen zu öffnen, ging sie einfach weiter. In Bewegung bleiben, dann kriegte alles einen Sinn. Dabei fühlte sie sich sicher. Mach nur die Dinge, bei denen du dir sicher bist, beschwor sich Gesche. Das hat Fredo gesagt. Ihre Schritte wurden plötzlich sicherer und schneller. Fredo. Zu ihm musste sie, dann würde alles wieder gut.

    Fredo lupfte den Ball mit der Fußspitze halbhoch an, katapultierte ihn per Knie auf zwei Meter Senkrechtflug, stoppte das herabfallende Leder mit der Stirn, ließ die Kugel abtropfen und erwischte sie Vollspann kurz vor der Grasnarbe. Die Pille knallte gegen die Unterkante der Latte, ließ das Torgestänge mit hellem Glockenton vibrieren, schepperte federnd im Maschendraht des Fangzauns und kam langsam zurückgerollt. Musik in meinen Ohren, dachte Fredo und schob den Ball mit der Hacke zu Knödel, der schon in vollem Anlauf anpreschte, mit hochrotem Gesicht und schnaufend wie ein Nilpferd im Blutrausch. Seine Füße schienen dem schweren

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