Mogelpackung: Roman
nach zu urteilen, lebte die Steinigungstradition anscheinend noch. Ihn beschlich ein mulmiges Gefühl. Da stand er nun. Alles auf Anfang. So hieß es am Set, wenn eine Szene wiederholt werden sollte und die Regie die Schauspieler zur Ausgangsposition beorderte. Damals, vor fünfzehn Jahren, hatte es für ihn selbst in den Zeiten finsterster Langeweile stets die Hoffnung gegeben: Es würde sich alles zum Besseren wenden, von ganz allein – er musste nur warten und erwachsen werden. Doch nun … Erwachsener würde er kaum noch werden. Lag das Beste in seinem Leben vielleicht sogar schon hinter ihm? Ohne dass er es überhaupt erkannt hatte, als es für ihn Gegenwart war?
Solche Spekulationen führen auf direktem Weg in die Depressionshölle, dachte Fredo. Abschütteln. Weitermachen. Trotzdem ahnte er, dass sich diese Gedanken nur temporär in irgendeine entlegene Bewusstseinsecke verkrochen, um ihn beizeiten wieder höhnisch anzugrinsen. Dafür musste jemand büßen. Die SIGMA-Chefetage, Sandra oder Plöger waren nicht zur Hand. Aber das Ortsschild.
Fredo bückte sich nach einem Stein. Runder Kiesel, lag gut in der Faust. Ziel kurz anvisieren, lang hinter der Schulter durchziehen, Kernwurf, ab durch die Mitte. Das Geschoss prallte mit glockenhellem Aufschlag exakt gegen die Kante des Ortsschilds und schwirrte als Querschläger zur Straße – genau auf die Frontscheibe eines aus dem Ort heranrauschenden Golfs, der den Kiesel so nahm wie ein versierter Kopfballspieler die passgenaue Hereingabe des Flügelstürmers. Fulminant beschleunigt, wechselte der Kiesel erneut die Flugrichtung, fräste kreischend eine hässliche Furche in den ansonsten makellosen Lack der Mercedes-Motorhaube und verschwand im struppigen Grün seitlich der Fahrbahn. Mit quietschenden Reifen kam der Golf schlingernd zum Stehen. Fredo war immer noch dabei, das eben gesehene Kieselbillard gedanklich zu verarbeiten, da sprang eine zornfunkensprühende Erscheinung aus dem Golf.
»Sind Sie bescheuert, Mann?«
Bevor Fredo dazu Stellung beziehen konnte, ging die Frau – es war eine Frau, so viel registrierte Fredo nun schon mal – furiengleich auf ihn los, bremste jedoch den Amoklauf im Ansatz und hieb ersatzweise wütend die geballte Faust aufs Benz-Dach. Noch eine Beule, fuhr es Fredo durch den Kopf, und rasch eilte er auf die Rasende zu, um weitere Kollateralschäden zu verhindern. Die Frau wich vor ihm zurück, die Hände abwehrend ausgestreckt.
»Fassen Sie mich nicht an!«
Das hatte Fredo gar nicht vor. Aber wenn er so aus dieser Nummer rauskäme, ließ sich die seitens der Frau offensichtlich aufkommende Panik vielleicht nutzen. Er verzog seine Miene zu einem Grinsen, von dem er hoffte, es wirkte möglichst hinterhältig. Das klappte gut. Sie begann den Rückzug zum Auto, rückwärts in kleinen Schritten, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
»Wagen Sie es ja nicht!«
Fredo behielt die Brutalofresse bei und setzte plötzlich einen schnellen Ausfallschritt nach vorn – mit gewünschtem Erfolg: Die Frau machte auf den Hacken kehrt, hechtete in ihren Golf und legte einen Raketenstart hin. Die durchdrehenden Antriebsreifen schleuderten eine Geröllwolke aus dem Straßenbankett, aus der sich eine weitere Kieselgranate löste und – quasi zum Abschied – krachend an der Mercedestür aufschlug. Dann entfernte sich der Golf im Renntempo. Fredo sah ihm konsterniert nach, bevor er sich der Schadensinspektion widmete. Herbe Scharte auf der Motorhaube, kleine Delle auf dem Dach und Lackschaden an der Tür. Der Benz sah irgendwie ziemlich gebraucht aus. Und er fuhr ihn seit knapp einer Stunde.
Achselzuckend schwang sich Fredo in die Limousine und warf einen letzten Blick aufs unerschütterlich stehende Ortsschild. »Willkommen in Bornstedt«, murmelte er, dann ließ er den Motor an und rollte über die Ortsgrenze.
Auf den ersten Blick hatte sich nicht viel verändert. Auf den zweiten Blick auch nicht. Eingangs der Hauptstraße, wo sie früher auf einem verwilderten Grundstück bis nach Ostern gehortete Silvesterböller gezündet hatten, stand ein neuer Supermarkt. Für den nötigen Parkplatz hatte die alte Baracke von Tischler Neumann dran glauben müssen. Das schien es, im Großen und Ganzen, mit dem Einzug der Moderne in Bornstedt gewesen zu sein.
Fredo lenkte den Benz über Nebenstraßen zum Anwesen seines Bruders. Zum Anwesen war es erst durch den protzigen Neubau im Toskana-Villen-Stil mit kitschigen Säulen und knallblau glasierten
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