Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
in Frieden, ist Yaya heute noch schweigsamer als sonst. Seine Antworten fallen noch kürzer und leiser aus, die anderen sind dafür umso lauter. Es wird gelacht, wobei mir nicht ganz klar ist, was es beim Erlernen der deutschen Sprache zu lachen geben soll, ausgerechnet bei einem so öden Thema wie den trennbaren und untrennbaren Verben, noch dazu zu so nachtschlafener Zeit. Nino scheint es sich ins Lockenhaupt gesetzt zu haben, unserem Deutschlehrer Lukas Neuner den Kopf zu verdrehen. Was findet sie eigentlich an ihm? Ich weiß es nicht, Herr Neuner hat ein langweiliges Dutzendgesicht. Ihm scheinen Rotkäppchens Avancen jedenfalls zu gefallen, dem Mann, der sich mit einem heiligen Namen tarnt, ein Wolf im Schafspelz, das ist er, Lukas, der liederliche Lüstling, der wölfisch-widerliche Wüstling, er badet in der pubertierisch bedingten Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwird. Der Böse Wolf pirscht sich an sein Opfer heran, Wann frisst du mich endlich, fragt Rotkäppchen ungeduldig. Ausgezeichnet, Nino, schmeichelt er dem Mädchen, und sein stahlblauer Köderblick gibt sich nicht einmal die Mühe, den Haken zu verbergen, mit dem der Backfisch an Land gezogen werden soll. Ich wünsche ihm Petri Unheil, ich werde mich beschweren, es gilt, unsere Jugend vor dem sicheren Verderben zu bewahren!
Nach dem Unterricht, auf dem Weg von den Niederungen des Erdgeschosses in die lichten Höhen des vierten Stocks, begegnet mir Taisa. Hello, Miss Chechnya, begrüße ich sie, als sie im ersten Stock den Lift betritt. Ich muss an das hysterische Gekreische der vergangenen Nacht und manch anderer Nacht davor denken und setze mein anzüglichstes Grinsen auf, doch sie schenkt mir nur einen verständnislosen Blick. Der Lift fährt nach oben, mein Blick hingegen gleitet nach unten, von Taisas Gesicht zu ihrem Dekolleté, zwei mittelgroße Honigmelonen werden da angeboten. Auch wenn man nicht wirklich hinschauen möchte, ja, selbst wenn man sich fest vornimmt, Frauen in die Augen zu schauen, zeigt die Schwerkraft doch unweigerlich ihre Wirkung. Man versucht sich an braune, blaue oder grüne Augen zu klammern, doch seien sie auch noch so anziehend, der Blick gleitet unversehens hinab, hüpft über Nasen, als wären es Sprungschanzen, versucht sich an Lippen und nach vorne gereckten Kinnladen festzuhalten, findet am Hals erst recht keinen Halt, und schon ist man in hügeligem Terrain gelandet, durchs Alpenvorland steigt man hinan, und erst, wenn man sich ins Zwillingsgipfelbuch eingetragen hat, erst dann ist über allen Wipfeln und in allen Zipfeln Ruh. Könnt ihr nicht wenigstens in der Nacht das Fenster schließen, frage ich sie auf Tschetschenisch, als der Lift im dritten Stock hält. Sie tut, als verstünde sie mich nicht, und verschwindet grußlos.
Beim Mittagessen gibt es nur ein Gesprächsthema: die Neue. Habt schon neue Mädchen gesehen, fragt Amal. Wieso, ist hübsch, möchte Afrim wissen. Hübscher wie du, neckt der Serbe Tomo seinen kosovo-albanischen Lieblingsfeind. Als , korrigiere ich ihn, als , mein Freund. Ist nicht schwer, wirft Nino ein, worauf ihr Afrim den erhobenen Mittelfinger entgegenstreckt. Sie hat geweint, ganze Vormittag, sagt Amal. Woher willst du das wissen, du warst doch im Deutschkurs, schalte ich mich ein, doch Amal tut meinen Einwand mit einem verächtlichen Schnauben ab. Ganze Vormittag, insistiert sie. Normalerweise hängt Amal mehr oder weniger apathisch in ihrem bevorzugten Sessel unweit der Tür und beteiligt sich nur selten an der Unterhaltung. Wenn man sie anspricht, muss man oft lange auf eine Antwort warten, nicht etwa, weil sie begriffsstutzig wäre, sondern weil es dauert, bis die Worte die Mauer durchdringen, die sie, Jahresring um Jahresring, um sich errichtet hat. Heute scheint Frau Mbowe jedoch Tag der offenen Tür zu feiern. Von welches Land kommt sie, möchte Tomo wissen. Weiß nicht, sagt Amal und zuckt mit den Schultern, Afrika irgendwo. Schon wieder, blökt Afrim in die Runde, ganze Afrikaner kommen zu uns. Scheiß-Rassist, fährt Amal ihn an. Trottel, assistiert Nino. Hey, was soll denn das! Schwarze, weiße, braune und gelbe Gesichter wenden sich um. Es ist schön, dass ihr wisst schon so viele Schimpfwörter, lässt Tony seine satte Bassstimme hören, aber müsst ihr euch unbedingt gegenseitig beschimpfen? Afrim started, ereifert sich Amal, he says … er sagt, alle Afrikaner kommen. Tony Philemon Azibaola, groß, kräftig und ziemlich schwarz, richtet seine großen Basedow-Augen auf den
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