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Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten

Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten

Titel: Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Horvath
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Angeklagten. Wen meinst du mit »uns«, fragt er sanft. Afrim wird rot, Tomo kann sich ein schadenfrohes Grinsen über die missliche Lage seines liebsten Feindes nicht verbeißen. Na … Österreich, stammelt Afrim. Aha, sagt Philemon, der Phielgeliebte, ich hab’ nicht gewusst, dass du schon Österreicher geworden bist. Alle außer mir und Afrim und Yaya lachen, Yaya scheint überhaupt nicht ganz bei sich zu sein, zumindest aber nicht bei uns, er streicht sich mit den gleichen Bewegungen wie gestern Nacht über Hände und Arme. Aber jetzt esst und ruht euch aus, sagt Tony, damit ihr seid fit nachher beim Fußballspielen.
    Tony geht ab, Djamila tritt auf. Djamila al-Shibli besucht als Einzige aus dem Leo eine öffentliche Schule. Sie stammt aus dem romantischen Irak und ist mit vierzehn die Jüngste im Bunde, außerdem ist sie klein und zart und scheint bei einigen von uns Beschützerinstinkte zu wecken. Wie geht’s, fragt Tomo, der große Bruder. Da ist frei, sagt Amal, die große Schwester, und deutet auf einen Platz zu ihrer Rechten. Die beiden teilen sich ein Zimmer, und Djamila ist die Einzige, der sich Amal manchmal öffnet. Djamila Nesthäkchen, Djamila kleine Schwester, Djamila Plaudertasche, Djamila Sonnenstrahl, doch nein, diesmal sitzt sie zusammengesunken neben Amal, die Augen hinter den Brillengläsern sind gerötet, sie stochert lustlos in ihrem Essen herum. Was ist, fragt Amal. Nichts, sagt sie. Dann wird weitergestochert und geschwiegen. Doch plötzlich bricht der Damm, Wasser stürzt aus den bebrillten Augen, alle wenden sich Djamila zu: Was ist, Was hast du, Was ist passiert? Sie lehnt den Kopf an Amals Balkon, und es dauert eine Weile, bevor sie wieder zu sprechen imstande ist.
    Langsam, Djamila, langsam, versucht Tomo ihren Redefluss zu bremsen, denn Djamilas Zunge hat es wie immer eilig, es zwitschert und tiriliert aus ihrem Munde, und die eine oder andere Silbe oder so manches liebe Wort bleibt dann hechelnd auf halber Strecke liegen. Sie wurde in der Schule von einigen Mitschülern beschimpft, stellt sich jedenfalls bald heraus, sie haben ihr Kopftuch und Brille weggerissen, haben ihr gesagt, sie gehöre nicht hierher, man wolle keine Moslems in Österreich, sie solle in den Irak zurückgehen, und außerdem sei sie hässlich. Diese Ignoranten wissen nicht, dass Djamila die Schöne heißt, spende ich Wortbalsam für ihre Wunden. Scheiß-Rassisten, schimpft Afrim. Volltrotteln, assistiert Nino. Na hallo, was ist denn mit euch los, fragt Tonys Kollegin Zakia, die gerade zur Tür hereinkommt.
    Am Nachmittag ist es noch ruhiger als sonst, der vierte Stock wirkt wie ausgestorben, nachdem Fußballer und -ballerinnen Richtung Donauinsel abgezogen sind. Die wenigen, die nicht mitballern, sind ausgeflogen, einzig und allein Djamila hat sich nach dem Versiegen der Tränenflut in ihr Zimmer zurückgezogen. An sich ist es ja vergnüglich, Mädchen beim Fußballspielen zuzusehen. Bälle in den verschiedenen Größen – Orangen, Äpfel, Birnen, manchmal auch Melonen – hüpfen fröhlich über das Spielfeld und wackeln paarweise dem einen Ball hinterher, als Mitspieler oder Gegner hat man von Zeit zu Zeit Gelegenheit zur Tuchfühlung, kurz gesagt – Fußballerinnen und -ballerinen aller Länder, tanzt für mich, høj de møpsen, es lebe der FC Wackelpudding! Doch nicht heute, heute muss ich passen, nein, muss das Passen bleiben lassen, denn ich habe zu tun, schließlich gibt es ja, wie Amal so beredt berichtet’, einen Neuzugang in unseren Reihen, eine neue Geschichte, die der Finsternis entrissen werden möchte.
    Was meine Mitbewohner und deren Geschichten betrifft, so kann man sie in drei Kategorien einteilen: Erstens gibt es die Gruppe derjenigen, deren Geschichten mich zu wenig interessieren, als dass ich mich damit länger als fünfeinhalb Minuten beschäftigen würde; der Tag hat schließlich nicht viel mehr als vierundzwanzig Stunden, und man lebt höchstens dreimal. In die zweite Kategorie fallen die meisten meiner Mitbewohner: Ihre Geschichten sind ihnen ins Gesicht geschrieben, und es ist mir ein Spiel und ein Zeitvertreib, darin zu lesen wie in einem Buch. Und dann gibt es noch die komplizierten Fälle. Es sind nicht allzu viele, die zu dieser Kategorie gehören, doch sie machen die meiste Arbeit, weil sie statt Gesichtern Masken tragen und ihre Geschichten tief vergraben haben in finsteren Gedächtnisverliesen.
    Eins, zwei oder drei, so lautet also die Frage bezüglich der Neuen im Haus. Sie

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