Moloch
der Voyeure und Exhibitionisten.
Diego nahm die Ahle, wählte eines der Löcher und schob das Gerät hinein. Als er es wieder zurückzog, hing ein kleines, zusammengerolltes Stück Papier daran. Diego zog den Verschluss ab und rollte es auseinander. »Schuh, Stern, Hut, Herz, Blitz.«
»Tut mir Leid, aber kein Gewinn«, erklärte Prosper umgehend.
»Darf ich mich selbst davon überzeugen?«
Prosper kniff verärgert den Mund zusammen, sagte dann aber: »Wie Sie möchten.«
Diego studierte das Lotteriebrett und fand die Erklärung des Geschäftsinhabers bestätigt. »Na ja, dann vielleicht beim nächsten Mal.«
Beim Hinausgehen kam Diego an einer stämmigen alten Frau vorbei, die einen schäbigen Pelzmantel und einen Hut trug, der aussah wie eine in sich zusammengefallene Torte. Schnaufend jonglierte die Frau mit zwei großen Papiertüten, in denen sich ihre Einkäufe befanden.
»Mrs. Loblolly? Lassen Sie mich Ihnen doch behilflich sein.«
Die Frau sah über ihre Schulter und erkannte Diego. Lächelnd und mit heiserer Stimme sagte sie: »Ach, Patchen, Sie waren schon immer so ein aufmerksamer Junge.«
Auf der Straße gelang es ihm, eine Seraglio anzuzünden, während er beide Taschen mit einem Arm festhielt. Er blies den süßlichen Rauch aus und begleitete Mrs. Loblolly zurück zu ihrem Apartment, das im gleichen Gebäude gelegen war, in dem auch Gaddis Patchen lebte.
»Wie geht es denn eigentlich Ihrem Vater? Wir haben ihn schon lange nicht mehr gesehen.«
»Ich fürchte, das werden Sie auch nicht wieder, Mrs. Loblolly. Er stirbt. Magenkrebs. Rein körperlich gesehen geht es ihm eigentlich nicht so schlecht, aber die Krankheit hat seinen Willen gebrochen. Er sitzt einfach nur noch da und sieht nach Jenseits der Gleise.«
»Oh, er befürchtet, die Bullen würden ihn bald kriegen. Sie sollten ihn davon überzeugen, dass niemand von uns weiß, welche Art von Pompaten in der Stunde unseres Todes zu uns kommen werden. Er könnte in den letzten Momenten seines Lebens auch von einer Schar lieblicher Fischerinnen umgeben sein. Sehen Sie doch nur. Bullen und Fischerinnen scharen sich im gleichen Maß zusammen, finden Sie nicht auch?«
Diego legte den Kopf in den Nacken und blickte zum Himmel. Er brauchte einen Moment, um sich auf die ewigen Bewohner der Atmosphäre zu konzentrieren und sie wahrzunehmen, da er längst daran gewöhnt war, sie völlig zu ignorieren.
Hoch oben über den Gebäuden von Uptown und Downtown kreiste eine mäßige, aber nicht zu übersehende Anzahl an Bullen und Fischerinnen, Symbole für Kraft und Anmut, die auf ihrer üblichen Flughöhe nicht genauer zu erkennen waren. Hin und wieder stießen einzelne der ledrigen oder gefiederten Geschöpfe hinab und schossen auf verschiedene Punkte in der Stadt hinab, wo ihre Klienten sich mit ihrer Sterblichkeit konfrontiert sahen. Dabei wurden verwischte Eindrücke ihrer genaueren Konturen erkennbar. Andere Pompaten, die ihre unterwürfigen Schützlinge mit auf eine Reise ohne Wiederkehr nahmen, flogen entweder nach Jenseits der Gleise oder zum Fernen Ufer und wurden von wartenden Artgenossen ersetzt.
Diego nahm den Kopf wieder nach unten und zuckte mit den Schultern, abgehärtet von dem alltäglichen Anblick. »Natürlich bin ich Ihrer Meinung. Aber er ist so voller Selbsthass, dass er es nicht einsehen kann.«
»Gibt er sich noch immer die Schuld am Tod Ihrer Mutter?«
Diego ging nicht auf ihre Frage ein, hielt aber einen Moment lang inne, um einen robusten, vom Alter verdrehten Baum zu betrachten, der dort in einem rechteckigen Flecken Erde stand, wo sich eigentlich eine der Schieferplatten des Gehwegs hätte befinden müssen.
»Blüht dieses alte Ding im Frühjahr immer noch auf?«
»Jedes Jahr«, erwiderte Mrs. Loblolly.
Diego rauchte schweigend seine Zigarette, während sie die vertraute Treppe hinaufgingen. Erst als sie im ersten Stock vor der Tür zu Mrs. Loblollys Wohnung standen, antwortete er auf die Frage, die seine Ex-Nachbarin gestellt hatte.
»Er gibt sich nicht nur weiterhin die Schuld, er will mich auch in seine Gosse der Selbstvorwürfe hineinziehen.«
Der nur schwach beleuchtete Korridor im dritten Stock des Hauses, in dem Diego seine Kindheit verbracht hatte, verbreitete eine unbehagliche Kälte und eine Mischung verschiedenster Gerüche, die ihm nur allzu vertraut waren: billige Zigarren, verschüttetes Bier, schmutzige Teppiche, Insektenspray. An der Tür zu Gaddis Patchens Apartment angekommen, klopfte Diego, dann
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