Moloch
nicht mehr die ist, in der er seinen Wahlkampf geführt hat. Aber auch er ist nicht mehr das, was er als Wahlkämpfer verkörpert hat. Er führt jetzt ein Land, in dem sich die politische Landschaft von Grund auf verwandelt hat, eine Landschaft, in der alte Zwänge abgebaut und neue Möglichkeiten aufgezeigt werden. Es ist zwar noch viel zu früh, um absehen zu können, wohin das führen wird. Aber man kann sich schon jetzt ein ziemlich klares Bild von diesen neuen Möglichkeiten machen.
Noemie Emery, The Weekly Standard,
11. Februar 2002
Er besitzt keine Seele.
George W. Bush, Fox TV, 18. Dezember 2001
Jerry Cornelius hatte auf einen schnellen Tequila Sunrise bei Gaucho’s hereingeschaut. Für den Abend ein wenig underdressed, drängte er sich durch die Schar schwatzender Gäste, gelangte zur Bar und sah sich nach der Bedienung um.
Er hatte seine Retro-Klamotten in Houston ruiniert und trug jetzt einen »Arsch-Kühler«, wie die kurzen Eton-Jacken genannt wurden, die seit 1960 in Mode waren. Er sah darin aus wie ein Mod, ein Filmgauner, ein East-Ender. Die Sonnenbrille war das i-Tüpfelchen. Es ging nichts über die Annehmlichkeit des Althergebrachten. Sonnenbrillen waren ein klassisches Accessoire. Er hörte niemals auf den Rat anderer. Er habe schwache Augen, sagte er.
Er konnte jedoch den wahren Kenner nicht täuschen. »Ein adretter schlichter Anzug strahlt Autorität aus«, versicherte ihm sein Bruder. »Ein Kurzhaarschnitt, ein wenig Goldschmuck und breite Manschetten. So etwas spricht Bände.«
Was die Kopfrasur betraf, so war Jerry Cornelius noch nicht ganz sicher. Immer noch drängte sich ihm die Vorstellung von Elektrischen Stühlen und Juden auf. Er war jetzt unterwegs zur Princelet Street. Trotz seiner Abneigung gegen die Kommerzialisierung der Volk-Israel-Idee benutzte Taffy manchmal immer noch die Synagoge als Treffpunkt. Er hätte noch einige Nachrichtenbänder, die er übergeben müsse, sagte er. Sie brauchten einen ehrlichen Vermittler. Er hatte alles untersucht, was für ihn von Interesse war. Der Pathologe des Innenministeriums hatte eine spezielle Studie über die letzten Worte Sterbender angefertigt. Er wusste, dass es dort einige Erkenntnisse gab, die ihm entgingen. Seit Jerry ihn kannte, hatte Sir Taffy Sinclair stets irgendetwas in petto gehabt. Jerry wusste noch immer nicht, was es war. Sinclair hatte ihm geholfen, die achtziger Jahre zu überstehen, und war während der neunziger Jahre an seiner Seite geblieben, daher war Jerry ihm einiges schuldig. Es waren tödlich langweilige 20 Jahre gewesen, in denen es außer dem Belgrano und der Basra Road nichts Erwähnenswertes gegeben hatte. Sinclair hatte sich mehr als anständig verhalten. Er hatte Jerry zu einigen netten Ferienorten im Mittleren Osten geschickt. Da war kein Mangel an militärischen Geplänkeln gewesen aber es gab nur wenige solcher Anlässe, bei denen sich ein ernsthaftes Engagement gelohnt hätte. Als Sinclair nun eine Nachricht schickte, machte sich sofort der alte Attentätergeist bemerkbar. Aber der Weg zurück war heutzutage nicht immer so einfach. Jede Sekunde stellte einen vor tausend Entscheidungen. War das vielleicht der Nachteil der Informationstechnologie?
Als die alte Truppe sich endgültig trennte, hatte Jerry sich darauf gefreut, einige Zeit in der Pyramide in Kairo zu verbringen, die er den Ägyptern im Jahr 2001 abgekauft hatte. Damals waren die Grundstückspreise gerade rapide nach unten gegangen. Er hatte ein Vermögen für Restaurierungsarbeiten ausgegeben. Wenn er Urlaub machte, hatte er immer Anwandlungen von Größenwahn. Es hatte nicht lange gedauert, bis er wieder nach London zurückgekehrt war. Der bevorstehende Kollaps New Yorks brachte ihn zu der Erkenntnis, dass er sich nur in einer wirklich großen Stadt wohlfühlte. Aber er hatte sich diszipliniert zurückgehalten. Man wusste, wann die Zeit für einen vorbei war. Man musste warten und hoffen, dass man eine neue Chance bekam. Die Welt veränderte sich ständig, zumindest im Augenblick.
»Im Grunde genommen«, sagte er zu Mitzi, die hinter der Bar stand, »kann man nur in London leben.«
Das freute sie. »Viele Orte sind nicht mehr übrig«, sagte sie. »Keine bedeutenden jedenfalls. Nur Reste davon. Und unbedeutende.«
Die beiden verband eine alte Freundschaft. Mitzi flirtete mit ihm. Sie war zwar nur die Tochter eines Bischofs, aber sie wusste, wie man einen Jesuiten scharf macht. »Ein Polizeimotorrad ist
Weitere Kostenlose Bücher