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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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eine Erwachsene mit ihrem fraulichen Wuchs, ihrem wehmütigen, wahrscheinlich unsicheren Lächeln. Sie setzt sich, wir lernen weiter das Lied von der schönen Lilofee, und ich stelle mir die Frau aus dem Lied so vor wie die in der Schulbank da vorn.
    Später hat sie sich als einsam entpuppt. Wahrscheinlich war sie zu groß und zu dunkel, mit dem schwarzen, dicken Haar in der Faust einschüchternd und in ihrem schläfrigen Phlegma irgendwie bedrohlich. Noch dazu roch sie nach Harz oder schwerem Wein oder Suppe. War ich auch nicht befreundet mit ihr, dann doch vertraut genug, sie sogar zu Hause zu besuchen. Allerdings wartete ich vor dem Holztor zum Hof, bis sie mich holte, weil immer große Hunde vor ihrer Haustür streunten. Kaum sah ich sie an, wollte ich sie lächeln machen, zusehen, wie durch den Schleier ihrer Wehmut die Belustigung brach. Das war schön.
    Einmal zieht sie mich an der Hand über eine Wiese, um mir am anderen Ende, gleich beim Zaun, ein Loch in der Erde zu zeigen, in dem sich ein Wespennest befindet. Erst fasst ihre Hand die meine nur im Affekt, dann mag sie sie nicht mehr lösen, des Schauers wegen. Zuletzt nähern wir uns auf Zehenspitzen dem Loch, das struppig umwuchert, schwarz und kreisrund in das Erdinnere führt, und aus dem die Wespen schweigsam heraustorkeln, um vereinzelt in die Sommerluft zu schwirren. Es kitzelt mich am Gaumen vor Entsetzen, und nachdem wir uns rückwärts schleichend wieder einige Schritte zurückgezogen haben, drehen wir uns um, laufen die ganze Strecke bis zum Hoftor atemlos zurück und lösen die Hände erst hier.
    Wir wissen es noch nicht, werden aber bald wissen, dass in diesem Wespenloch die Unschuld der schönen, jungen Lilofee für immer verschwand.
     
    Lieber Horst ich schreibe dir noch einen Brief in dem drinsteht dass du dich kaum sehen lässt und das ist doch keine Freundschaft oder nicht. Horst du gehst ja jetzt mit mir schon lange aber wir sehen uns kaum. Damit will ich nicht sagen dass ich Schluss mache nein ich gehe noch mit dir nur dass du dich nur sehen lässt wenn dein Freund keine Zeit hat mit dir zu gehen kommst du zu mir und fragst ob ich noch mit dir gehe so ist es doch oder nicht Horst das finde ich nicht gut von dir. Nun aber tüsch und zwei große dicke Schmatzche auf deinen Mund wie meistens.
     
    Zum Karneval tritt eine stumpfe Mitschülerin in die Reihen der Maskierten, in eine trübe Folie geschweißt. Sie wird nicht gefragt, sagt aber:
    »Ich gehe als Träne.«
    Die Hübscheste der Klasse kommt in einem braun-grünen, ölig enganliegenden Overall mit Kapuze. Sie wird umringt, mit Fragen bestürmt und ist erstaunt:
    »Sagt bloß, ihr erkennt nicht, was ich bin!«
    Nein wirklich, so etwas haben wir nie im Leben gesehen.
    »Ich gehe doch als Alge.«
    Die Alge habe ich nie wiedergesehen, aber als ich die Träne Jahre später treffe und sie mir erklärt, dass sie nicht Schauspielerin werde, denn da führe »der Weg nach oben doch nur durch die Betten der Produzenten«, sehe ich vor meinem inneren Auge ein Bett, in dem die Träne liegt in ihrer Folie, eingeschweißt in den Geist einer Zeit, die das Wort »Sittenstrolch« noch kannte und den Weg in die Bürgerlichkeit mit Gemeinplätzen pflasterte.
     
    Ein Mann hinter einem vergitterten Fenster auf seinem rosa bezogenen Bett. Im Spiegel sieht er zwischen alten Mahagoni-Möbeln sich selbst, durch das hohe Fenster treibendes Blau, treibendes Grau, ziehendes Licht. Tritt er ans Fenster, stockt die Bewegung im Haus gegenüber, wo kleine Mädchen zanken, größere vor Spiegeln stehen, Mütter Fußmatten ausklopfen und jeder als ein Passant vorbeikommende Blick sagt, dass sein eigener Blick nichts, dass er leer ist. Und das Mädchen gegenüber jauchzt, den glatzköpfigen Bären im Arm, und ist froh wie die Ballerina mitten in der Pirouette.
     
    Die Wohnung liegt da wie lange verlassen. Das Licht fließt nur unwillig ab, jetzt, da es Nacht wird. Kein Zimmer war eingerichtet darauf, heute noch betreten zu werden. Diese Wohnung ist ein Dachboden, der die Requisiten der frühen Jahre beherbergt, eine Pfauenfeder, ein paar Papp-Orden, ein gälisches Kreuz aus Torf, eine Klarinette von einem Prager Flohmarkt. Es ist ein Raum voller Klaviermusik. Und dann das Hühnerfrikassee der Kindheit. Und jede einzelne Kaper. Die Wohnung ist eingerichtet, als sei sie bereit, verlassen zu werden für immer. In Gegenwart verwandelt, wird sie flüchtig. Der nicht persönliche Blick, der sie bald streifen wird, könnte

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