Momentum
über die Trommel des Bauches, unter dem Gürtel durch, abwärts. Ich werde das Gefühl später mit Hilfe eines Blechlöffels wiedererwecken, dabei ein Gesicht machen wie beim Laufen, später ein zerrissenes, dann ein eingestürztes Gesicht. Warum ist die Liebe so anstrengend?
Nur in kleinsten Einheiten versteht man das Verschwinden der eigenen Kindheit, erfasst man sie in den Bildern vom Saum der Ereignisse, als man darauf starrte, wie sich das Handeln vom eigenen Selbst entfremdete und ein leeres, unkonzentriertes Handeln dazwischentrat.
Mach los, ich habe jetzt keine Angst mehr davor, dass du dich schmiegst, erfährst, wie ich rieche, dass du nahe kommst, überhandnimmst. Ja, jetzt sehe ich das Mädchen, das ich »Frau« nenne, vor mir als ein Massiv künftigen Wissens: Der Abend wird verstreichen, ich werde erfahren, wie sich ihr Haar unter den Handteller legt, wie ihre Haut nachgibt, wie ihre Hand greift, welches Tempo ihr Begehren hat, wie ihr Atem riecht. Mindestens so sehr wie auf alle diese Dinge freue ich mich auf das Wissen.
Ein Behagen, das daraus entsteht, etwas nicht zu machen: eine Wohnung nicht zu beziehen, ein Bild nicht aufzuhängen. Man trennt sich von der Möglichkeit, dem bereits warm simulierten Leben und findet sich im Transit, zögernd zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht, das Eintreffen der Entscheidungen abwartend.
Verwandt das Glück, der Unbekannte zu sein, der etwas ist und tut, aber gleich anschließend spurlos und unauffindbar verschwindet. Seine Tat ist noch in der Welt, aber sie ist Wirkung ohne Verursacher. Etwas so Abgeschnittenes in die Welt zu schicken, sie alogisch zu machen, bewirkt, dass sich irgendwo Wohlgefallen wie ein Farbnebel ausbreitet.
Die Ereignisse werden uns knapp. Als Gegengift erfinden wir den »Tag der unbotmäßigen Handlungen« und sammeln die Gesichtsausdrücke. Ich gehe in eine Bäckerei und sage der Verkäuferin einen Satz aus dem Schreibmaschinenlehrbuch: »Viktor, bringe dieses Holz nach Xanten.« Dann verlasse ich die Bäckerei und weiß, dass ich im Leben der Bäckerin einen kleinen Nebel hinterlassen habe, eine Fassungslosigkeit. Vielleicht hat sich dieses Leben für einen Moment aus der stabilen Seitenlage bewegt und einen Effet empfangen. Ihr Gesicht ist so. Ich sage zu einem Mann, der seine Sonnenbrille hochgeschoben hat: »Sie haben auf Ihrem Kopf Ihre Brille liegen gelassen.« Er schaut verächtlich. Am Fuß der Rolltreppe: »Vorsicht, sie fährt falsch rum.« Ich bekomme den Vogel gezeigt. Zu einer Dame: »Sie haben heute zwei Frisuren auf dem Kopf.« Sie hatte schon vorher ein Das-geht-Sie-gar-nichts-an-Gesicht. Jetzt hat sie es von »stumpf« auf »scharf« gestellt. Zum Polizisten: »Ich bin heute, der ich morgen war.« Er ist nicht zuständig, wird mich aber im Auge behalten. Zu einem lachenden Geschäftsmann: »Heiter sieht anders aus.« Sein Lachen wird plötzlich von einem Fragezeichen überwölbt.
Der Ausbreitung der Verunsicherung sehe ich gerne zu. Sie tut den meisten Gesichtern gut. »Würden Sie mich kaufen?« Die Passantin hat keine Zeit. Abends stelle ich mich vor ein Theater und verlange vom Publikum ein Eintrittsgeld ins Leben. Abwinken. Ich sage zu einem Paar, das ich eindringlich beobachtet habe: »Dies sind nicht meine einzigen Augen, da täuschen Sie sich mal nicht«, zu einem Halbwüchsigen: »Du wirst wieder zu Samen werden«, zu einem Ehepaar: »Würden Sie sich bitte mal küssen?«. Sie tun es. »So, jetzt aber mal ran an den Speck!« Sie tun es lachend wieder und wieder und aus Überzeugung. Ende des Tages.
Irgendetwas, wahrscheinlich eine Verliebtheit, von der ich noch nicht weiß, lenkt mich schon seit dem Morgen ab. Aber wohin? Ich stochere im Schlaf herum, in der Musik. Nichts. Als ich vom Fenster aus die Straße beobachte, kommt die blonde Schreibwarenladenbesitzerin mit ihrem jungen Schäferhund vorbei. Ich gehe hinunter und sage: »Warum kommen nur Sie aus dem ganzen Viertel nie zu mir herauf? Ich bin doch auch nur ein Mensch.« Verabschiede mich rasch und lasse sie in einer Stimmung zurück, die für beide wie ein Versprechen ist. Zwei Monate später, als wir nebeneinander unter zwei Decken liegen, wachträume ich den Satz: Wenn man nachts unter zwei Decken schläft, ist man wie durch Nationen voneinander getrennt.
Auch die Paare haben ihre Altarbildtradition, erstarren im Gesten-Palaver, sprechen von »Anbetung«. Diese verherrlichte, aber glücklos begehrte Frau hat eine Wette verloren. Jetzt
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