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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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dem Stift über das Papier streicht wie mit der Spitze einer Fasanenfeder. Als sie weitergeht, ihren Duft mit sich führend, will ich nichts als radieren, radieren, radieren.
     
    Als in ein Telefonat zwischen Toto und mir infolge einer Fehlschaltung plötzlich eine fremde Frauenstimme einbricht, und wir beide rufen: »Hallo Schatz!«, erwidert die Frauenstimme: »Was heißt hier Schatz?«
     
    Wenn wir früher, als die Erwachsenen noch von ihren »Entbehrungen« sprachen, die wir uns »nicht vorstellen« könnten, wenn wir in dieser Zeit, als die Frauen in der Werbung noch große Busen hatten, damit ihre Mütterlichkeit uns alle anstecke und tröste, wenn wir also zu der Zeit, als das Deutschland der Witzseiten noch voller Handwerker und Briefträger war, wenn wir da in eine Metzgerei eintraten, empfand ich dies als eine Fleischwerdung von allem. Auch die Verkäuferinnen, der Schlachter, die Kundinnen waren aus Salami und Cervelatwurst gepresst, mit Beinen wie Bierschinken und Nasen wie Nierchen, und alle waren nackt und demonstrierten ihre Innereien, schamlos durchblutete, schiere und schillernde Filetstücke.
    Für die Imagination war der Weg vom Leib zum Fleisch etwa so weit wie der vom Aktbild zur Röntgenaufnahme. Während mein Blick über die indezente Auslage schweift wie der eines Mormonen über die Illustrierten am Kiosk, lässt sich meine Mutter die Wurst erklären. Bei einer, die ihr besonders empfohlen wird, fragt sie bei der Metzgersfrau nach:
    »Essen Sie die auch selbst?«
    »Bedaure, Gnädigste«, sagt diese, und meine Mutter wird augenblicklich ungnädig, »das ist Kundenwurst.«
    Was Klassenbewusstsein ist, lernte ich zuerst am Fleisch.
     
    Als ich alt genug war, ging ich ins Bordell und stellte fest, dass ich nicht alt genug war, denn ich war zu nichts gut. Die Frau, die ich wählte, stand nicht in der Tür und fasste mich auch nicht an, um mich ins Zimmer zu ziehen, sondern sie lag auf dem Bett, schaute Fernsehen und blickte bloß kurz auf, um zu fragen:
    »Hast du Lust?«
    »Lust« war nicht das richtige Wort.
    Zuletzt liegen wir bloß so auf dem Bett, und sie sagt, ich solle mir »ihren Bären« mal ruhig angucken. Das Wort ist entsetzlich, am Bären selbst aber ist nicht viel zu sehen. Immerhin sind mir aus einem dicken Buch mit dem Titel »Die Ärztin im Hause« (»Prämiert auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1911 «) einige lateinische Namen für Körperzonen geläufig. »Mons Pubis«, sage ich und zeige darauf, »der Schamhügel«. Sie schüttet sich aus vor Lachen.
    »Und, du kleiner Klugscheißer, kennst du noch mehr?«
    Mir fällt aber bloß noch ein, dass man Brüste, die am Rücken angewachsen sind, wissenschaftlich als »retropositio mammae« bezeichnet. Sie bezweifelt, dass Brüste am Rücken anwachsen können.
    Als meine Zeit um ist, sagt die Frau mit der pudrigen Aura und dem Künstlernamen Vanessa:
    »Dass du beim nächsten Mal nicht ohne neue Vokabeln anrückst! Ich frag dich ab!«
    Schon die Vorstellung eines »nächsten Mals« ist verschwörerisch und quasi privat. Also verbringe ich die folgenden Tage mit erregenden Vokabeln und bilde mir ein Verhältnis ein. Ach, Vanessa.
    Was ich an Vokabeln für uns suche, soll etwas Exklusives, ganz auf sie und mich Zugeschnittenes sein. Am Ende entscheide ich mich zur Selbstbeschreibung für den Ausdruck »aura seminalis«. So nennt man »die Ausstrahlung der Keuschen«. Für Vanessa aber wähle ich »odor lupanaris«, »der Geruch der Wölfinnen«. So haben die alten Römer den Duft der Huren genannt. Sie hört es zufrieden.
    »Dann komm her«, sagt sie und bewegt ihre Schulter, ihre Brüste, ihre Schenkel sogar meinen Riechküssen entgegen. Es kommt etwas Zerstäubtes über mich, etwas Gespenstisches, sehr Aufregendes, und ich schwelge in dieser Reise über ihre Blößen. Als meine Zeit um ist, muss ich versprechen, wiederzukommen, mit neuen Wörtern. Sie stellt es dar wie eine Hausaufgabe, seufzt, zieht sich an und sagt dabei den rätselhaften Satz:
    »Du hast Glück, du lernst langsam.«
     
    Brotrinden mit Butter; das Kind kommt auf den Rücksitz; iss auf, sagt der mütterliche Mund; komm nach Hause, wenn die Lampen angehen; der Ruf geht über die Feldwege, über den Sportplatz. Der Schulweg steht voller Dahlien, Bartnelken, Zinnien; aus einem Rohr tropft Wasser in eine Tonne, in der, flauschig aufgequollen, ein Maulwurf schwimmt. Das Mädchen knöpft mein Hemd so weit auf, dass ihre kühle Hand hineingeht, gleitet

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