Momentum
trotzdem ab. Die Frau intoniert eine Lage tiefer. Aus dem Orgeln ihrer afrikanischen Verwünschungen steigen zwei deutsche Vokabeln auf wie Fontänen. Sie nennt den Mann erst »Quadratsocke«, dann »Affenlaus«. So spuckte die Musik die Sprache aus.
Die letzte Handlung des wachen Tages im Kinderbett: im Liegen mit dem rechten Fuß das hochgerutschte linke Hosenbein des Schlafanzugs herabzuschieben, dann umgekehrt. Dabei rutscht die Hose am tätigen Bein wieder halb hoch. Korrektur. Zuletzt, wenn beide Enden der Hosenbeine auf Höhe der Knöchel liegen, folgt noch das Strecken der Beine mit einer Muskelspannung, die Botenstoffe ausschüttet und sie über das Einschlafen schickt.
»Verschon uns Gott mit Strafen.«
In der Volksschule spielt Herr Garbe manchmal das kleine Beethoven-Menuett Nr. 2 in G-Dur auf dem Flügel. Er sieht weinerlich aus, wenn er es spielt, und wir bezeugen Respekt – weniger dem Mann mit seinen komischen Empfindungen im Gesicht als vielmehr dem schwarzen Instrument mit den Klängen im Bauch. Obwohl der Flügel niemals abgeschlossen wird, wagt niemand, Hand an ihn zu legen, wenn Herr Garbe nicht im Raum ist. Mag sein, dass wir den Ernst des Lehrers nicht verstehen, der im Spielen immer weiter den Mund zur wunden Grimasse verzieht, wehrlos aber sind wir vor der Süße der Melancholie, die von der Melodie hochdampft.
Später, als wir das Menuett schon besser kennen, dürfen wir uns, während Herr Garbe spielt, an den Händen nehmen und im Kreis dazu schreiten. An einer bestimmten Stelle sollen wir uns loslassen, umdrehen und mit einem neuen Partner im Kreise weitergehen. Da weicht dann die Melancholie der Feierlichkeit eines höfischen Zeremoniells, das ich vor mir sehe wie auf einer hässlichen braun-grünen Tapisserie, und im Moment zwischen dem Lösen der einen Hand und dem Ergreifen der neuen empfinde ich, von Musik überschwelgt, das Glück, das mit dem Einbruch der Freiheit in die Ordnung verbunden ist und mit dem Erfassen einer anderen Hand.
Als Kind war ich schlampig, unfähig, die Dinge zusammenzuhalten, dabei unkorrigierbar selbst durch den Satz: »Du wirst in deinem Leben noch bittere Tränen vergießen über deine Unordnung.« Der Satz blieb stehen, der elterlichen Autorität wegen, und weil »mein Leben« darin vorkam, für das ich kein Gefühl hatte. Tatsächlich sammelte ich vieles, verlor aber auch vieles, eine Kaurimuschel, einen Kaninchenschädel, einen Hornlöffel, ein altes Puppenauge in einer Metallkapsel.
Einmal bekomme ich zum Geburtstag ein Paar gefütterter grauer Lederhandschuhe, die »exquisit« genannt werden und »eigentlich noch zu schade« für mich. Ich schlage im Wörterbuch das Wort »exquisit« nach und besitze von dem Tag an meinen ersten »erwachsenen Gegenstand«. Tage später habe ich die exquisiten Handschuhe fallen oder liegen gelassen, jedenfalls sind sie weg. Als ich den Verlust bemerke, renne ich wie besessen im Zimmer auf und ab, wühle in meinen Wollsachen im Schrank und flehe zu Gott. Ich laufe alle Wege ab, besuche jede Wohnung von Freunden, traue keinem, der bloß bedauernd den Kopf schüttelt, schaue lieber selbst nach.
Zuletzt gehe ich an einem Nachmittag in die Schule und frage die dicke Putzfrau, deren fremdartiger Name Rogatzki mich seltsam erregt, und die ganz allein jeden Nachmittag die Klassenzimmer putzt. Auf mein Bitten, ein Flehen mehr als ein Bitten, fahndet sie in einer Kiste mit verlorenen bunten Stoffsachen, lauter aufgegebenen, entehrten, vermissten Utensilien, die vermutlich auch schon betrauert worden sind. Aber meine Handschuhe finden sich nicht. Da setze ich mich draußen auf die Treppenstufen und weiß nicht mehr, wohin in der Welt. Aber ich sehe noch, wie Frau Rogatzki in der Tür erscheint und mir in ihrer speckigen Hand ein paar verwaschene grüne Wollhandschuhe zum Ersatz hinhält, und ich fühle noch, wie beim Anblick dieser abgetragenen, filzigen Wollhandschuhe die Tränen steigen.
In der Grundschule kommt einmal ein neues Mädchen in die Klasse. Es kommt mitten im Unterricht, als wir gerade das Lied »Die schöne Lilofee« lernen und eben angestimmt haben: »Es freit ein wilder Wassermann auf der Burg wohl über dem See«. Der Reim geht auf »Lilofee«.
Das Mädchen ist groß, hat den Teint einer Orientalin und hält ihr langes schwarzes Haar in der Faust, als müsse sie sich festhalten im Augenblick, da die umwerfenden Blicke der neuen Mitschüler sie treffen. Sie heißt Ottilie und wirkt wie
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