Momentum
muss sie sich nur in ihrem Herrenoberhemd auf den Tisch stellen und sich vom Bett aus betrachten lassen. Unsicher begibt sie sich in Position. Ihre Augen, spöttisch verengt, funkeln abwärts, mustern den Betrachter, wie er mit seinem Blick an ihren Beinen aufwärts schwenkt, über die Scham, dem Bauch entgegen, zu den Beinen, in den Blick zurückkehrt. Sie hält die Bildwerdung länger aus als er die Bildbetrachtung. Zugleich wächst ihre Unerreichbarkeit ins Maßlose. Sie steht und lässt sich sehen, wohl wissend, dass sie im selben Augenblick zu etwas wird zwischen Ikone und Evergreen. Jetzt weiß sie plötzlich auch selbst, dass sie ihre Herrlichkeit besitzt und stellt den rechten Fuß einen halben Meter weit aus, in einer dreist provozierenden Pose, in der der ganze Stolz auf ihre Leiblichkeit liegt, und lässt den Jungen da unten verkümmern. Der aber genießt gerade seine Schwäche.
Gerade habe ich eine neue Armbanduhr gekauft. Nun stehe ich am Datumsfenster und blicke in die Zeit, in der ich meine erste Uhr im Preisausschreiben eines Schuhfabrikanten gewann. Auch sie besaß ein Datumsfenster, das allerdings von einer Gardinenstange zertrümmert wurde beim Fechten im Kinderzimmer. Da hing der Tag heraus wie ein ausgelaufenes Auge und schielte nach dem Zifferblatt, während sich der Uhrmachermeister bekümmert darüber beugte und weiter zur Kundin sprach:
»Wie viele Familien hat die Liebe ruiniert!«
So einen Gedanken hatte ich noch nie gehört.
Heute hatte ich das Gefühl, der neue Tag kommt nicht in jede Gegend. Der alte steht immer noch zwischen den Häusern und lehnt an den Hügeln. Der neue Tag erblaut auf den Kleidern, die sich an den Zweigen der Weiden aufgehängt haben. Sie sind eben schwer genug, damit sich die Spitzen dieser Zweige in den Fluss senken und diesen zeichnen können. Ein Seismograph, der die leisesten Erdstöße registriert.
Einmal stand im Garten des Hauses gegenüber eine Frau mit sommersprossigem Gesicht, kurzen Locken und einem empörend sinnlichen Mund. Sie war nicht mehr ganz jung, aber allein, sie hängte die Wäsche auf und hatte ihr Lächeln ganz um ihren Mund versammelt, während sich die kalten Augen auf die nasse Jeans konzentrierten, die, mit dem Hosenboden zur Erde, an der Leine landete.
Diese Frau kommt und geht wohl zweimal pro Woche durch ein Gartentörchen. Habe ich Glück und sehe sie, kann ich einen Gruß hinüberrufen, den sie mit einem Lächeln beantwortet. Sie trägt ein Kopftuch und einen halblangen Mantel mit der Eleganz einer Wirtschaftswunder-Frau und untertreibt gern ihren Gruß.
Über Nacht bleibt sie in einem Zimmer weit oben. Sobald sie es betreten und das Licht eingeschaltet hat, tritt sie ans Fenster, reißt den Vorhang temperamentvoller zu, als ich es ihr zugetraut hätte, und einmal löscht sie das Licht zwar, hebt aber im Dunkeln trotzdem heimlich eine Vorhangspitze und blickt auf unsere Fassade. Beim nächsten Mal habe ich deutlich aus diesem Fenster Tanzmusik klingen hören, die aber aus einer anderen Welt kam, aus fremden Ländern, schwer verständlich, aber nachdrücklich rührselig wie Klezmer oder Fado.
Unter ihrem Fenster steht ein verschossener gelber Liegestuhl mit gebrochener Armlehne. Ich denke mir, dass es ihr Stuhl sein muss, finde ihn traurig und rührend, hat sie doch das Zeug zu einer Neureichen-Witwe, die nur entdeckt werden muss. Eines Tages möchte ich sie hier sitzen sehen. Eine solche Frau. Auf einem solchen Stuhl.
Einmal konnte ich sie in einem ebenerdigen Zimmer eines ganz anderen Trakts des Gebäudes erkennen. Es war sehr spät, und ich habe noch genau das Bild ihrer Hand vor Augen, die durch eine angelehnte Tür nach dem Lichtschalter tastete. Aber ich erkannte ihre Hand und sie am blonden, sommersprossigen Arm und dem Schlafanzugärmel. Dann erlosch das Licht.
Früher vermutete ich sie hinter dem einen Fenster da oben. Inzwischen denke ich, dass sie überall erscheinen kann. Ich bin schon oft vor erleuchteten Fenstern auf und ab gegangen und habe hochgeblickt, Schlüsse gezogen und Konjunktive geblasen. Gestern sollen aus ihrem Zimmer Gläserklirren und eine Männerstimme gedrungen sein, und meinem Zeugen zufolge erschien ein Mann »in Adams Leder« am Fenster. Als ihr Gruß heute Morgen ein bisschen verächtlich ausfiel, mochte ich sogar das. Sie zuckte die Achseln mit dieser Attitüde, mit der auch Dschingis Khan sein Sengen und Morden verteidigt hätte: »So bin ich eben.« Ich könnte sagen: Ich liebe
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