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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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erschöpft.«
    Sie hat Prokofjew aufgelegt, ein wildes Tier von einem Stück. Um meinen Stuhl liegt goldmetalliges Konfetti. Ich weiß nicht, warum.
    »Jetzt geh ich am helllichten Tag ins Bett«, sage ich.
    »Weil es regnet?«, fragt sie.
    »Nein, ich möchte krank sein, ohne krank zu sein.«
    »Diese Musik hat ja gar keine Moral«, erwidert sie und entlässt mich in einen Halbwachzustand. Seinen Eingang flankieren alle diese Trümmer des Nichtverstehens.
     
    Ein Fahrgast sagt einer hübschen Polin im Zug, sie solle gefälligst ihre nackten Füße nicht auf das Sitzpolster, sondern auf eine Zeitung legen. Er giftet mit dem ausgestreckten Finger ihre tadellosen Füße an. Sie fragt:
    »Ja, sind denn alle verrückt?«
    Der Schaffner, ein Glatzkopf mit der Ausstrahlung eines Skinheads, wird vom Fahrgast herbeizitiert. Er hört sich die Sache an.
    »Das sind doch schöne Füße«, sagt er.
    »Aber dreckig«, meint der Beschwerdeführer.
    »Dreckig kann ich nicht sehen«, erwidert der Schaffner.
    Der Kopf der Polin geht hin und her, sie beginnt schon, den Faden zu verlieren.
    »Aber Sie müssen doch etwas tun«, ereifert sich der Fahrgast, eine Erregungsstufe höher.
    »Wieso, stört Ihnen das?«, fragt der Schaffner.
    »Stört Sie das!«
    »Mich stört’s nicht«, erwidert der Schaffner. »Aber Ihnen stört es ja offenbar.«
    »Ich sag, man sagt richtig: Stört
Sie
das?«
    »Also, mich stört es nicht.«
    »Das kann nicht Ihr Ernst sein: Jeder kann seine Füße so legen? Das ist also genehmigt?«
    »Genehmigt nicht, aber geduldet.«
    »Genehmigt? Geduldet? Was geduldet ist, ist auch genehmigt!«
    »Sie scheinen mir aber ein ziemlich schwieriger Zeitgenosse zu sein.«
    »Ich?«
    Der Fahrgast möchte morden. Die Füße der Polin reiben sich unterdessen aneinander, als wärmten sie sich über dem Feuer der Auseinandersetzung.
     
    Geschäftsfrau zu Geschäftsfrau, vor einem Schaufenster stehend, unvermittelt:
    »Ich bin froh, dass die Dinge Geld kosten.«
    »Wieso?«
    »Weil ich welches habe.«
    Die Gedanken der anderen Frau legen eine Mittelstrecke zurück, dann nickt sie, doch der Cello-Ton ihres Gewissens gibt keine Ruhe, und sie fragt bang:
    »Und wenn alles den Bach runtergeht?«
    Die Erste zuckt die kostbar bemantelten Schultern.
    »Haste schon ’ne Exit-Strategie?«, fragt die Zweite.
    »Ich kann das alles nicht mehr ernst nehmen.«
    »Genau, ich habe schon Mühe, mich selbst ernst zu nehmen.«
    »Und ich erst!«, seufzt die Erste. »Und mich erst!«
     
    In der Bar. Hinter der Theke die Alte mit dem schönen, vielsagenden, abgearbeiteten Gesicht. Vor der Theke eine schwere, dröhnend atmende Matrone fortgeschrittenen Alters im großgemusterten dunklen Kleid, flankiert vom schmalen Ehemann. Daneben eine winzige weiß Blondierte, rosig im leichten Sommerkleid, ein Schalksgesicht mit goldgerandeter Brille. Daneben ich, kolossal im Hemd. Die Alte hinter der Theke, zum ganzen Schankraum gewandt:
    »Und meine Herrschaften, Ihre Meinung über das Wetter?«
    Da sind wir Herrschaften also auf einmal zusammengebunden in unserer Entfernung. Sofort plappert jeder seine Meinung heraus, baut Plattitüden aus Satzbausteinen vor sich hin, »für die Jahreszeit«, »nach dem Jahrhundertsommer im letzten Jahr«. Der Gatte hebt sein Bierglas. Sein Gesicht beim Trinken, ohne Glas vorgestellt, hinterlässt den Eindruck großartiger Blödheit. Auch behandelt ihn seine Frau nicht wie einen Ehemann, sondern wie einen Stammkunden. Wir schnattern weiter, »und die Brandgefahr«, das »ganz schwierige Jahr für die Bauern«. Wir werden unterhalten, wir unterhalten, die Worte kommen als ein Schwarm. Da hebt auch die Wirtin ihr Bier und lacht so beglückt in ihr Glas, bis es innen beschlägt. »Ehe ich in das Zimmer kam«, sagte Kaspar Hauser, »bekam ich einen Augenblick ein unbewusstes Gefühl.«
     
    Marie-France trägt dieses Sommerkleid, ach ja, dieses Sommerkleid aus der alten französischen Serie »Janine« um eine Hebamme, die mit dem Damenfahrrad über Land radeln und Säuglinge flügge machen muss. Mit Marie-France gehe ich durch eine Pappelallee. Die dicken Gitanes, die sie raucht, haben auf dem Zeige- und Mittelfinger ihrer Rechten zwei curryfarbene Flecken hinterlassen. Ihr Gesicht ist von all ihrer Freundlichkeit hübsch geworden. Dazu die Segelohren, die aus dem Gesicht ein Pantomimen-Gesicht machen, das im ungeschminkten Zustand sogar das eines Filous ist. Es gibt nach, wenn man lange genug hineinsieht.
    Wir finden eine

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