Momentum
diese Frau für die Art, wie sie missverstanden wird. Aber nein, wahrscheinlich liebe ich mich selbst dafür.
Und manchmal entfaltet sich morgens die Idee, einen schönen Tag zu machen, nicht, um ihn zu verschleudern, eher, um ihn zu bekleiden wie man ein Amt bekleidet. Das ist die nie erschöpfte Liebe zum leeren Tag, wenn der Schnee nicht aufhört zu fallen, die Balkontür offen steht, und in den Schwaden der kalten Luft gehe ich vor sieben Uhr durch die Zeilen, und heute haben sogar, in den fallenden Schnee hinein, die Vögel gesungen, als sei ihre Freude, am Leben zu sein, in jedem Ton geläutert und rein.
Ein Feiertagsmorgen, Raureif auf den Autos, die Rasenflächen silbernadelsteif. Während ich das Kaffeewasser aufsetze, fällt mir in der gegenüberliegenden Hauswand der dicke Junge ins Auge, der, eingewickelt in eine Wolldecke aus dem Fenster hängend, den Bürgersteig mustert. Etwas vom kranken Kindchen oder vom einsamen Witwer hat sein Bild. Er ist so wohlig frei gestellt und unbeteiligt in den Rahmen gedrückt, doch ebenso ist er ganz Auge. Ja, sein angekränkelter Zustand ist der eines Zwischenreichs, aus dem er zurück- und vorausblickt, die Entfernungen messend. Und beides liegt gleich weit weg. Was bleibt, ist der leichte Schmerz nur, die wabernde Übermüdung, die von der Krankheit eingeräumte Verantwortungslosigkeit. Er ist auch der Knabe nicht mehr, dessen Foto sein junger Vater alle zwei Wochen erneuerte und herumzeigte mit den Worten: »Jetzt kommt er halt in das Alter, wo es besonders spannend ist …«
Weiß und schwammig ist er geworden, trägt die Krankheit wie einen Titel und blickt auf die Gerechten und Ungerechten: Unten lässt einer seinen Wagen an und fährt hupend davon. Eine Frau im violetten Bademantel räumt zwei Stockwerke tiefer Unrat auf den Balkon. Ein Mann eilt auf dem Bürgersteig vorüber, der Gegenwind hebt ihm die Tolle von der Halbglatze wie ein Rhabarberblatt. Alles beobachtet der Junge mit sichtbarer Teilnahme, verfolgt die Handlung seines Lebens. Alles kommt, als werde es von außerhalb seines Blickfeldes losgeschickt, um ihm zu erscheinen. Ich verfolge die Objekte seiner Teilnahme nicht, sondern bloß seine Teilnahme. Durch seine Augen suche ich die frühmorgendliche Straße. Als er mich entdeckt hat, erstarrt er, und das ab dem Augenblick, da wir, wie zwei Fliegenaugen, einander einmal eine Facette zugewandt haben und auf dem Feinschliff dieser Facette trüb wurden.
Dreimal habe ich im Leben eine Flaschenpost verschickt. Die erste warf ich in den Rhein. Drei Tage später erhielt ich eine Antwort aus Andernach. Der Hund eines Spaziergängers hatte sie gefunden. Dieser war im Schützenverein, liebte das Brauchtum seiner Heimat, und unsere Korrespondenz schlief zwei Briefe weiter ein, ohne dass es zu einer Begegnung gekommen wäre.
Die zweite warf ich ins Meer bei Kiel. Monate später schrieb mir ein kleines Mädchen aus Nordschweden. Sie schickte ein Passbild, auf dem sie ramponiert aussah. Gefunden hatte die Flasche ihre ältere Schwester, die aber kein Interesse am Schreiben hatte. So korrespondierte ich mit der Kleinen ein halbes Jahr. Dann hatten wir uns erschöpft.
Die dritte Flaschenpost verschluckte der Atlantik vor vielen Jahren.
Zu jeder Zeit habe ich mir andere Empfänger vorgestellt: eine Dame mit Veilchenaugen, einen Russen, der den Wodka »Vaterlandsweinchen« nennt, einen Kunstmaler mit hängender Wampe, eine Hip-Hop-Queen.
Einmal überquere ich die Straße einer Großstadt. Da stehen Mann und Frau zwischen zwei parkenden Autos, der Mann stumpf, die Frau agitiert. Nichts passierte, vielmehr war gerade etwas passiert. Sie schreit ihn an: »Nun tu doch was!« Und wieder: »Nun tu doch was!« Plötzlich sehe ich meine dritte Flaschenpost, wie sie von einer Hand aus den Wellen gefischt wird. Seit Jahren wartete ich darauf, im Leben einmal den Satz zu hören »Nun tu doch was!« Jetzt ist er eingetroffen.
Die Zugschaffnerin ist eine sehr schöne Frau mit einem intelligenten Gesicht. Sitzreihe für Sitzreihe schüchtert sie mit ihrem Gesicht die Reisenden ein. Aber wenn sie lacht, was sie selten tut, wechselt ihr Gesicht den Ausdruck und wirkt, als habe sie gerade etwas Schmutziges gedacht oder wäre in Marmelade getunkt worden. Dann stehen auch ihre Zähne schief, und die Augen werden sehr klein. Sie beruhigt jeden, der sie lachen sieht, indem sie so enttäuschend lacht. In Japan werden Zahnärzte schon gebeten, Zähne schräg zu
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