Momentum
stellen, des Charmes wegen, den das Verwilderte verströmt.
»Können Sie jetzt nicht mal bitte dieses Kind beruhigen«, fragt der ältere Herr höflich, indem er die Frau zwei Sitzreihen weiter auf ihr schreiendes Baby hinweist. »Dieses Kind schreit ja wie am Spieß!« Die Schaffnerin tritt hinzu:
»Sie sagten ›am Spieß‹?«, fragt sie.
Plötzlich ist das Bild da. Das Kind ist so heiter mitten in diesem Bild, und die Schaffnerin lächelt auch mit ihrem verwilderten Mund.
Ricardas Gesicht im Lachen. Ein Gesicht, das sich irgendwo losgelassen hat, um im Ungewissen anzukommen, wie die Spinne, die sich am Faden herunterlässt und nicht weiß, wo sie landet. Ihre Zähne, als rufe das Lachen Schmerzen hervor, setzen sich auf die Unterlippe und beißen zu, die Brauen werden schmerzlich zusammengezogen, in den Mundwinkeln sammelt sich Speichel. Die ausgestreckt zupackende Hand greift sich einen Arm, irgendeinen Unterarm, wie um das Gleichgewicht im Lachen nicht zu verlieren, die andere Hand schwebt ziellos in der Luft, immer bereit, sich vor Zudringlichkeiten zu wehren, vom schrecklichen Schauer des Lachens übergossen. Ich kann mich nicht sattsehen an so viel Zügellosigkeit.
Während ich im Dunkel des frühen Morgens noch im Bett liege und auf die Straße hinauslausche, klingt plötzlich ganz isoliert ein haltloses Lachen hinauf und löst gleich ein Sehnen aus – wie früher das Hundegebell aus der Ferne, das Pfeifen der Eisenbahn, das Tuten der Schiffe, der Kuckuck, die Orgel, die Kirmesmusik. Man möchte aufbrechen, teilnehmen, in die Erzählung springen. Doch während das alles gleich vorbei ist und sich selbst verzehrt hat, indem es unauffindbar wird, setzt die nächste Befriedigung ein: das Unwiederbringliche geschehen und gehen zu lassen.
Am meisten mögen wir unsere lachenden Münder, die im See, zweihundert Meter vom Ufer, aufeinander zu schwimmen. Sie treffen sich beim nächsten Mal hinter der verschlossenen Tür des Bads, dann auf dem Stoppelfeld in der Nacht, als wir unter freiem Himmel ein Lager gebaut haben. Am Morgen steht dicht vor diesem Lager ein alter Bauer mit Sichel und Sense, die er dengelt, ohne uns anzusehen. Wir fliehen ins Wasser. Sie trocknet sich anschließend nie richtig ab, so dass auf dem hellblauen Kleidchen dunkle Flecken entstehen und der Duftstoff des Waschmittels sich mit dem Meersalz und dem Sonnenteint mischt. Sie sieht mich bei den harmlosesten Sätzen auf das Äußerste gespannt an. Ein Jahr später wird sie in einer Telefonzelle stehen und weinen auf dem Satz: »Mir fehlt halt so manches.«
Die Frau an ihrem schönsten Tag, jenem, an dem sie vollkommen entfaltet ist und reiner Glanz in die Atmosphäre strömt. Da nimmt sie, weil sie nicht um sich weiß, eine Haarsträhne in die Hand und untersucht die Spitzen auf Spliss, legt die Schuhe mit den von schadhafter Echsenhaut ummantelten Absätzen auf die Sitzfläche gegenüber, lässt sich aber bei der Untersuchung ihrer Haarspitzen nicht stören und sagt, wie aus dem Strudel der Gedanken auftauchend:
»Was meinst du, können Gebete den Blutdruck senken?«
Morgen ist auch noch ein Tag.
Diese fahl erleuchtete Stunde, als ich mich damals mit Susanne im Zoologischen Museum verabredet hatte und sie nicht kam, nachdem sie einen der Wärter telefonisch beschworen hatte (»Seien Sie so lieb …«), mich ausfindig zu machen und mir die Nachricht zu überbringen, was er nicht tat, denn er wusste ja nicht, dass sie immer alles bekam, was sie wollte, weil ihre Augen strahlend, ihr Teint bronzefarben, ihre Mähne dicht und alles in ihrer Miene großzügig und ganz beim Gegenüber war, wenn sie wollte. Und ich, der ich den Raum betreten hatte im Vorgefühl des Vergnügens, das es mir bereiten würde, ihn an ihrer Seite wieder zu verlassen, schlendere also zwischen den Monstrositäten, den toten Tieren und ausgestopften Gefühlen in den Vitrinen dahin, gehe insgeheim auf ein Lächeln zu, das sie mit Wucherzinsen erwidern wird, und ihre Abwesenheit im Saal ist nicht minder monströs, nicht minder Tier und ausgestopft.
Das Schönste an diesem Tag war ein doppeltes Niesen. Einen Nahtod später stehe ich im Wald und sehe zu, wie das Licht zwischen den Stämmen zu Boden rieselt, als ließe es jemand aus großen Händen durch die Laubkronen rinnen. Es ist Gold, es triumphiert als Licht ohne Träger, ohne Leib, es ist eine Idee.
»Ich war beim Schwimmen«, sage ich heimkehrend, »jetzt bin ich ganz
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