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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Restaurant.
    Auf der Speisekarte werden die Mahlzeiten, aber auch die Kellner und Kellnerinnen beschrieben und angeboten. Wir wählen die Redselige. Aber sie hat heute frei. Wir erhalten die Sachliche. Andere Gäste rücken an, Wein kommt, Musiker besetzen die kleine Empore, »bandstand« genannt. Wir essen nostalgisch jugoslawisch. Dann erheben sich hinter uns plötzlich die Bravsten, ein Pfeifenraucher und seine gebatikte Geliebte, und beginnen zwischen den Tischen mit schleppenden Schritten, weit ausholenden Gesten zu tanzen, ambitioniert, aber selbstvergessen.
    Es müsste peinlich sein, schrecklich sogar, bis unter die Haut entblößend, wäre der Raum nicht so voller Einverständnis. Ja, im ganzen Saal ist jetzt nichts als Zustimmung für die exaltierten, arrhythmischen, unaufgeräumten Schwünge. Als von einer dieser artistischen Wendungen dann auch noch Glas und Flasche vom Tisch gefegt werden und alles herbeistürzt, um dem Tanz rasch zu seiner Fortsetzung zu verhelfen, so als sei er ein Werk, eine Kostbarkeit, zu deren Vollendung jeder beitragen möchte, da ist der gemeinsame Nenner dieser kollektiven Bewunderung im Angesicht der Pleite die Menschenliebe, die Daseinsfreude.
     
    Als ich im Sommer von Belgrad an einem kleinen Markt sitze und Orangen schäle, setzt sich ein Zwanzigjähriger dazu, ein serbischer Rapper. Er erklärt mir seine Musik:
    »Ich bin kein Amerikaner, ich meine es ernst. Meine Themen sind traurig, sie sind politisch. Ich beschäftige mich nicht mit Frauen, Pistolen und Gold. Damit habe ich mich nie beschäftigt, und ich mache nicht solche Gesten, solche hier …« – er spreizt die Finger und stößt sie rhythmisch in die Luft vor sich. »Ich rede auch nicht so komisch – ey, motherfucker! Das sind alles Ablenkungen. Darum geht es nicht. Meine Themen sind traurig, ich bin ernst.«
    Seine Augen blicken dem Ernst seiner Themen hinterher. Er ist politisch. Jetzt hat er es gesagt. Dann geht er die Straße herunter, über den frischgefegten Bürgersteig, eine halbe Orange in der Rechten. Seine halbhohen Hosen schlenkern um seine Beine, und seine Waden sind so dünn, so zart, als ginge da noch ein Kind zum Spielen, in all seinem Ernst.
     
    In einem serbischen Supermarkt läuft seit einer halben Stunde »Sweet Home Alabama«. Die deutsche Schlagzeugerin der Rockgruppe »The Gummiband« steht zwischen den Regalen und hat eben den Satz hervorgebracht:
    »Wir vegetieren in der Realität des Menschen.«
    Jetzt vergleicht sie die Sonnenöle und wendet sich an eine Frau im Kittel:
    »Hätten Sie dieses Produkt auch in deutscher Sprache?« Sie bekommt es und dankt: »Da fällt einem ein Stein vom Herzen. Eine ganze Last fällt einem da vom Herzen.«
     
    Auf ihrem Kleid ziehen die Wolken. Auf ihrem Unterarm sträuben sich die Härchen.
    »Schön«, sage ich.
    »Was meinst du?«
    »Dein Unterarm zum Beispiel ist schön.«
    »Was soll denn daran schön sein?«, fragt sie und dreht ihn. Er ist auf der abgewandten Seite so deutlich mit Adern gemasert, dass man denken kann, dem Körper in seine Kabelage zu sehen.
    »Auch schön«, sage ich, mich darüber hinwegsetzend. Wo das Gefühl einmal ist, da ist es schön.
     
    Das Pelzmantel-Exil. Eine Weißhaarige mit einer Pagenfrisur wie Prinz Eisenherz wandelt durch die Lobby, als trage sie ihr persönliches Bayreuth mit sich. Der Barpianist in der Ecke löst gerade alles Wirkliche in einen Zustand von Gedankenverlorenheit auf. In Luxushotels, sagt eine Robuste, gibt es oft nur zweierlei: Geheimräte und Fressen. Beide haben Perlmuttknöpfe am Schlitz ihrer Unterhosen. Ich verlängere den Blick der Professionellen in den Saal mit der Frage: Welches Menschenbild hat die Raubkatze? Liebe? Du sollst es geben, ich will es haben. Abwesend ist die Regung mit dem Namen: Du wirst mir fehlen.
     
    Der alte Kellner hat ein faszinierend gemischtes, verderbtes Gesicht, in dem die Schatten vergangener Exzesse durcheinandertauchen.
    »Ach, der Wein«, sagt er, »eine magische Pflanze! Alles nimmt sie aus dem Boden auf, die Mineralien, den Ton, das Jod. Ja, die Rebe ist eine Alchimistin, sie braut sich alles zusammen. Eine Kirsche dagegen bleibt immer bloß eine Kirsche. Sie schmeckt, wie sie schmeckt. Der Boden ist ihr ganz egal.«
    Er beschreibt den Wein, wie er sich selbst beschreiben würde. Dann geht er zur Beschreibung des Essens über, das er sich am letzten Ruhetag für sich selbst zubereitet hat, die Kaninchen-Ravioli mit Pfeffer, gerösteten Pinien und

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