Momentum
Sand. Da nichts passiert und da wegen des schlechten Wetters auch die Fischer nicht eintreffen, von denen ich Fisch hatte kaufen wollen, gehe ich wieder ins Strandhaus und koche dünnen Kaffee. Je länger nichts passiert, desto stärker fühlt es sich an, als hätte ich Geburtstag.
Dann Kinderstimmen vor der Tür. Wahrscheinlich ist Sara darunter, die nicht schwimmt, wenn der Regen das Meer über Nacht abgekühlt hat. Sara, das neunjährige Turiner Mädchen, zart und ernst, ist vielleicht zu jung für Konversation, aber immer geneigt, Fragen zu beantworten. Das tut sie mit Aufrichtigkeit und antiquierten Formulierungen wie »Das habe ich andere sagen hören«, »So soll es sich zugetragen haben«. Ich sehe ihr ernst ins Gesicht, und so blickt sie zurück.
Nachts war der Strom ausgefallen, da hatte es heftig an der Tür gedonnert. Als ich öffnete, war sie es gewesen, die eine Taschenlampe brachte, offensichtlich stolz, Lichtbringerin zu sein. Seltsame Diskrepanz, dies heftige Klopfen und ihre zarte, in das Dunkel hineinlächelnde Gestalt, scheu und stolz. Ihr gegenüber verlieren die an Zauber, die schon geworden sind, was sie noch verspricht. Sie könnte es immer weiter versprechen.
In der Frühe sitze ich wieder am Strand und erwarte die Heimkehr der Fischer. Der Sand ist nass und klumpig vom Tau. Er beansprucht nur einen schmalen Streifen vor dem Bahndamm mit seinen schneidend durchrasenden Reisezügen und der Schnellstraße dahinter mit ihren schweren Lastwagen. Überall Geschwindigkeiten, stetig synchronisiert. Weiter weg kämpft ein zottiger Schäferhund gegen den leichten Wellengang an, um ein Fischerboot zu erreichen, das sich dem Ufer nähert. Der Fischer, ein kräftiger Mann, stapft schon an Land, an der Seite einer spröden, gegerbten Frau. Gefangen haben sie wenig. Aber ein paar kleine Schollen und ein halbes Pfund Sardellen kann ich haben.
Stunden später ist der Sand wieder rieselfähig. Die letzten Badegäste des Jahres verteilen sich in kleinen Gruppen über den Strand: ein gebeugter Alter in roter Hose, ein paar Jugendliche, die einen Tierkadaver inspizieren, die schöne Turinerin, die aus den Wellen springt, ihren Jungen an der Hand, und die notorischen Alten, die, von keiner Langeweile gestreift, unter den Olivenbäumen zum Schwadronieren zusammenkommen. So blicke ich in den spätreifen Sommer: Ja, wir sind alle in Auflösung.
Die frisierten Bräute stehen aufgebrezelt in den Grünanlagen und machen ein Gesicht, das noch Jahrzehnte später als »Glück« durchgehen soll. Dies ist die Ursituation, auf der sich die Zeit niederlassen wird. Das Kleid, der Schmuck, die Pose, die fotografische Technik, sie alle werden den Verfall anziehen, aber durch sie hindurch wird dieses stehende Lächeln dringen, zusammengehalten von der Energie, mit der es allein der Zeit trotzen wollte.
Das Trauungszimmer im Bürgermeisteramt Dornstetten dekorieren Fotokopien der Hochzeitsbilder von Vermählten aus vielen Jahren: die Greisinnen-Bräute, die noch aus dem 19 . Jahrhundert kommen, tragen einen langen Schleier, und der Bräutigam krampft in der Hand den Zylinder. Die Wirtschaftswunderpaare blicken schon rasant, die dann folgenden haben die Disco im Blick und bringen der Hochzeit sogar Ironie entgegen. Sie haben sich leger auf dem Kopfsteinpflaster vor dem geschmückten Fenster aufgestellt. Trotzdem stecken die Stengel der Blumen noch in einer Manschette aus Seidenpapier. Jetzt werden die Frauen stärker, und, ja, auch unternehmungslustiger werden sie und bringen das Korrektiv der Welt auf die Welt: die Empörbaren.
Die Frau an meiner Seite hat jedenfalls den ersten Gipfel gerade erreicht: geliebt zu werden. Den zweiten hat sie schon ins Auge gefasst: zu wissen, dass sie nicht mehr geliebt wird. Zwischendurch wird sie die Freiheit genießen, die sich einstellt, wenn eine Beziehung das Bedrohliche eingebüßt hat.
Wir haben uns einmal geliebt. Heute sind wir angejahrt, und die Fähigkeit zu lieben ist es auch. Wir sehen uns auf die Symptome, sitzen im braunen Blütenschnee, den der Nachmittagswind vom Apfelbaum treibt. Es wäre nichts ohne das Klappern eines Esslöffels auf dem Grund einer Dessertschale, es kommt von einem Balkon weiter weg, wo eine ältere Frau steht, die in ihre Welt sieht, den Löffel im Mund, sie zieht ihn so heftig wieder heraus, als mache sie sich augenblicklich an die Radikalisierung ihres Lebens. Wir sind zu glücklich erschöpft dazu.
Auf einer Landzunge Madeiras
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