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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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wie vom Lastentragen und besteigt jetzt an der Seite der anderen einen dreckbespritzten Jeep. Die Ouzo-Trinker werden mit ihren kleinen gebackenen Fischen nicht fertig. Sie pellen die Panierung ab. Ein Losverkäufer mit Schiebermütze geht unermüdlich und erfolglos von Tisch zu Tisch. Er ist zu jung für diese Art Arbeit. Er bringt kein Glück. Der Geruch von gebackenem Fisch und Toilette kommt durch die Luft. Er nimmt etwas mit aus den Haaren aller. Der Ober stellt mir ein halbes Kilo Weißwein in der Karaffe auf den Tisch. Seine Hand liegt glücklich wieder auf meiner Schulter, während er zu den Ouzo-Trinkern hinüberflachst, mir zwischendurch zuzwinkert auf den Worten: »Was bleibt mir übrig?« Da aber kräht schon wieder der Sonderling in der Ecke des Lokals, kräht nun schon zum zweiten Mal:
    »Herr Ober, bringen Sie mir etwas Präzises, bitte!«
     
    Ich bin mehrere hundert Meter an einer Felswand hochgestiegen, in eine große Klosteranlage eingetreten, habe den gelblichen Schädel des heiligen Pantaleon in seinem silbernen Schrein gesehen. Der Abt mit der Orgelstimme hat Mokka aufgesetzt, von draußen hörte ich eine Stimme deutlich sagen:
    »Da hat der Herr der Silbermöwe gesagt, sie solle weiterziehen.«
    In der Bucht schwimmt kein Mensch. Der zweite Mönch mit dem verinnerlichten Gesicht hat ausdruckslos eine Geschichte erzählt, ohne Anfang und ohne Ende. Der Dritte zündet sich seine schon angerauchte Zigarette an und geht in die fallenden Aschenflocken hinein. Draußen sehe ich einem Vogel mit Startschwierigkeiten zu. Von hier oben betrachtet, hat alles das Gesicht des Rückzugs.
     
    Die Frau, die aus dem Wasser taucht, ihre Arme über dem Beckenrand verschränkt, hochblickt, mit Wassertropfen auf den Schultern, blinzelt, der Blick ist noch nicht an Land.
    Sie schlendert zum Tischchen, streckt sich, angelt sich ihre Zigaretten, lehnt sich zurück, wringt die blonde Strähne links vom Kopf in einer Faust. Im Lack ihres Zeigefingers glimmt der Widerschein der sterbenden Zigarette, und der Pool sieht aus, als werde er in diesem Moment von einem Kind mit Buntstift ausgemalt. Was ich in der Welt der Pornographie geleistet habe, sagt ihr Gesicht, ist viel zu wenig gewürdigt worden.
     
    Der emeritierte serbische Professor für Veterinärmedizin steht am Fenster, wo die Epochen ineinander und gegeneinander gebaut haben oder sich die kalte Schulter zeigen. Er spricht von den Zeiten, als der Schüler, der den Lehrer im Tischtennis schlug, gute Noten in Mathematik bekam. Gegen seine Frau, die eine muntere Royalistin ist und heute Einwände formuliert gegen Franzosen, Amerikaner und Sozialisten, setzt er sich leise zur Wehr. Der englischen Sprache bedient er sich mit fast asiatischem Gestus. Von großer Güte ist er, einer von Altersgebrechlichkeit ungedämpften Intelligenz und zartem Gewissen. Lässt er, seiner Gebrechlichkeit wegen, ein Glas fallen oder versucht, den Wein aus der noch verschlossenen Flasche einzugießen, schämt er sich wie ein Knabe, dabei funkelt sein Verstand abseits der ausgetretenen Wege der Konversation. Wo seine Frau die großen Linien der serbischen Politik drastisch und parteiisch, dabei rhapsodisch und mit sympathischer Leidenschaft entwirft, ist er ein beherrschter Pädagoge, wenn auch ein fatalistischer.
    »Und die serbische Dichtung?«, frage ich. Der Sohn mischt sich ein, sagt: Ein Belgrader Straßendichter, bekannt seit Jahrzehnten und als Original verehrt, dichtete:
    »Ich sitze auf dem Heuhaufen und sehe deine Titten wachsen.«
    Ratlosigkeit ringsum. Der Sohn fügt hinzu, fatalistisch wie sein Vater:
    »Im Serbischen reimt sich das.«
     
    Der Sommerhimmel ist unentschlossen, als wir die Mietswohnung der Eltern verlassen, einen Bau im Speckgürtel Belgrads, die Wände voller Ikonen. Weihrauch hat sie gefirnisst, ebenso wie den geräucherten Käse auf unseren Tellern, vom König, von Tito, von Djindjic war lautstark die Rede. Jetzt treten wir hinaus, unter den wankelmütigen Himmel, passieren die Ruinen aus dem letzten Krieg, und einmal stürzt sogar eine barbusige Frau, eine Verstörte, auf das Trottoir und redet die Kreuzung an. Wir erreichen den Fluss. Tropisch wirkt er, wie von Mangrovenwäldern gesäumt. Abwärts laufen wir, weiter abwärts, bis über die Asphaltgrenze hinaus, den Fußweg entlang, bis zu einem Lokal, das erhöht an der Böschung liegt wie ein gestrandetes Schiff. Alles ist offen. Der Himmel schimmert wie Milchglas, Mücken tanzen. Wir sind die Ersten im

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