Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
Vom Netzwerk:
hoch über dem Atlantik gebaut, behauptet der Hotelbau seine Aussichtsposition als ein opulentes Felsennest. Durch die geöffneten Fenster blickt man über das von Sonnenfächern gestreichelte Meer. Davor liegt ein Steg mit Liegestühlen, die sich zwischen den Rhododendren verteilen. Die Sträucher haben ihre Blütenfarben auf die Livree der Kellner abgestimmt. Ein wenig abseits streckt sich in dieser Höhe, fünfzig Meter über dem Ozean, noch der Pool, auf dessen Grund ein einsamer automatischer Reiniger am langen Schlauch seine Bahnen fährt, gewunden wie die eines Holzwurms. Kein Mensch weit und breit.
    Das Hotel treibt den Luxus bis zu einem Punkt, wo er nicht mehr steigerbar ist und fällt dabei zurück in jene Imperfektion, die man als »liebenswürdigen Charme« bezeichnet. Denn es ist niemandem aufgefallen, dass da noch ein Kalender aus dem letzten Jahr hängt, dass ein Hund die Korbmöbel angefressen und das Gartenmäuerchen Pilze angesetzt hat. Der Kellner heißt Juvenal, sein Bursche Necatius. Auch sie kommen offenbar aus Jahrhunderten des Hohen Stils. Die Kellnerin auf der Sonnenterrasse allerdings ist noch nicht lange im Dienst auf Madeira, die Sprache beherrscht sie nicht flüssig. So tritt sie immer an den Tisch und fragt: »Was gibt’s?« Die Gäste beschweren sich. Sie versteht die Gäste nicht.
    Aber das Meer, aber der ewige Frühling, aber die Vegetation, die so gerne »tropisch« heißt, sich aber nicht so anfühlt, und das nachmittägliche Klappern der Kuchengabeln und Tassen auf dem Porzellan, das sich gegen die Brandung durchsetzt! Aber die feuchtwarme Luft und die alternden Liebespaare in den Winkeln des terrassierten, gut beschirmten Gartens! Und diese dumme Liebe zur Welt morgens um sieben, wenn der Tag durch die offene Tür duftet und die Stunden noch zahllos wirken. Dann steht plötzlich die Vorstellung eines Buches da, in dessen Zeilen man hineinlaufen könnte, die Vorstellung einer Musik entsteht, die sich schon aufgemacht hat, um eines Tages zu erscheinen und zu erschüttern, und von Bildern, die den Schutt der anderen Bilder hinter sich lassen, um einen ersten Blick zu öffnen. Ja, es ist noch früh, gut lebt es sich im Versprechen.
     
    Das schottische Ehepaar krault auf gleicher Höhe rückwärts. Das Meer hat sich verfinstert, während die Sonne immer noch gleißend über die Wasseroberfläche des Pools funkelt. Und einmal küssen sie sich sogar im Wasser, wozu die Frau umständlich ihre Taucherbrille abnimmt. Ihr Gesicht ist dabei furchtbar freundlich. Während sie ihren drahtigen Mann über den Wasserspiegel hebt, schrumpft er in ihren Armen, wird kurz ein Kind und gewinnt erst durch einen robusten Kuss auf ihre mit Chlor benetzten Lippen seine Männlichkeit zurück.
    Da steigt sie aus dem Wasser und fahndet nach dem weißen Frotteetuch, das sie anschließend um ihre großen Oberschenkel windet. Sie holt sich den Kopf des Mannes mit beiden Händen. Er kämpft mit sich, macht ein Gesicht wie der Gourmet, der im Hähnchenknochen auf eine frische Blutader gestoßen ist. Dann küsst er los.
     
    Im Hafen von Rafina: Noch bevor sie sitzen, verhandeln die Männer mit dem Ober über das, was sie essen werden, zum Beispiel einen kleinen Fisch mit energischer Rückengräte in Knoblauchpaste. Der Ober, mit meiner Bestellung zufrieden, legt mir kurz die Hand auf die Schulter, tut es wieder, als er zwischen den Tischen durchgeht, das Tablett mit dem Ouzo zu den Männern balancierend. Eine große rote Vodafone-Fähre legt an. Der Ober möchte jetzt den nächsten Gang mit mir besprechen, er geht Fische durch, Namen und Geschmäcker reproduzierend. Am Nebentisch ein melancholischer Knabe ohne Hinterkopf, dauernd wehmütig, aus Bassett-Augen in die Welt blickend. Sein Begleiter, ein Wichtigtuer, hat nur Augen für sein Mobiltelefon. Da steht der Dritte am Tisch, ein Alter, auf. Als er am Pier nichts Interessantes findet, setzt er sich wieder. Das Schiff, das ich nehmen soll, die »Express Aphrodite«, läuft ein. Ich habe mir noch einen kleinen Schoko-Osterhasen in den Mund gestopft, den mir eine Freundin in Zürich ins Gepäck geschmuggelt hatte. Dann stehe ich auf. Im Fernsehen Wackelbilder mit Rettungsbooten, hohem Seegang, herangezoomten Schwimmwesten, Rettungsringen. So ein schöner Tag, irgendwo ein katastrophaler. Dann Augenzeugen, die das Haar aus der Stirn streichen. Der melancholische Junge lächelt plötzlich so unsicher, als habe er es noch nicht richtig geübt. Er hat einen Gang

Weitere Kostenlose Bücher