Mond der Unsterblichkeit
die Tür.
Amber verspürte nicht die geringste Lust den Abend am Tisch dieses sonderb a ren Macfarlane zu verbringen, nur Dad zuliebe folgte sie der Einladung. Moms übe r triebene Aufregung wegen des Essens ging ihr auf die Nerven. Sie brauchte jetzt dri n gend frische Luft.
Draußen war es dunkel, der Himmel wolkenverhangen. Süßer Blüte n duft aus dem Garten wehte herüber. Der kühle Wind ließ sie frösteln, tat aber gut. Stille. Alles wirkte so friedlich, und doch konnte dieser Eindruck nicht das Echo der Ve r zweiflung und Furcht unterdrücken, das die dicken Mauern bargen. Sie hörte ein Flüstern, das aus jeder Mauerritze zu dringen schien, als wollte ihr das alte Gemäuer von seiner schrecklichen Vergangenheit erzä h len.
„Verloren, wir sind verloren“, flüsterten geisterhafte Stimmen. Amber schrak z u sammen. Sie fühlte, es waren die Stimmen ruheloser Seelen. Eine Hand an die Kehle gepresst, drehte sie sich im Kreis. Die Stimmen kamen von überall, schlossen sie ein. „Verloren, alle verloren.“ Hier war die dunkle, furchterregende Macht zu spüren, die dieses Schloss seit Langem beherrschte und den gepeini g ten Seelen keine R u he gönnte, die sich nach Erlösung sehnten.
Amber hielt sich die Ohren zu. Das sind nur Visionen, reiß dich zusammen, e r mahnte sie sich. Mein Gott, wie konnte sie sich nur in die Enge treiben lassen? Sie zwang sich, die negativen Schwingungen zu ignorieren. Eine Weile verharrte sie auf der Stelle, bis das Geflüster verstummte. Erleichtert atmete sie auf und folgte lan g sam dem schmalen Weg an der Schlossmauer entlang. Vor ihr befand sich der To r bogen, auf dem das Wappen der Macfarlanes prangte. Fasziniert sah sie zu dem von Halogenlicht angestrah l ten Wappen hinauf, das einen Krieger darstellte, der in der rechten sein Schwert und in der linken Hand eine Krone hielt.
Plötzlich nahm sie seitlich eine Bewegung wahr. Zwei rotglühende Augen f i xierten sie aus der Dunkelheit. Ein tiefes, drohendes Knurren folgte. Amber blieb wie a n gewurzelt stehen und beobachtete, wie sich ein Körper geschmeidig aus dem Gebüsch schob. Ein Wolf, größer als ein Löwe, baute sich zähnefle t schend vor ihr auf. Wilde Wölfe in Schot t land? Unmöglich! Und doch stand sie einem gegenüber.
Gefahr, echote es in ihrem Kopf, worauf ihr Herz im Hölle n tempo Adrenalin durch den Körper pumpte. Das Tier duckte sich und näherte sich ihr im Zeitl u pentempo. Im Schein des Halogenlichts erkannte sie das Spiel der Mu s keln unter dem dunklen Fell. Panik stieg in ihr auf, wenn sie an die vielen Schlagzeilen dachte, die von Kampfhunden b e richteten, die Menschen angefallen hatten. Und dieses Exemplar war nicht nur groß, sondern auch angriffslustig. Langsam, ohne das Tier aus den Augen zu lassen, ging Amber Schritt für Schritt rückwärts. J e den Moment rechnete sie damit, dass es ihr an die Kehle springen würde. Bei einem Raubtier dieser Größe hatte sie keine Chance zu entko m men.
Schon setzte der Wolf zum Sprung an. Amber wich nach hinten aus und stieß zu ihrem Entsetzen mit dem Rücken gegen die Mauer. Wie gelähmt beobachtete sie jede Bewegung des Tieres, was ihr die Situation nicht gerade erleichterte. Zu spät. Tränen schossen in ihre Augen. Die riesigen Reißzähne des Wolfes schi m merten wie Elfenbein und waren beeindruckend groß. Zitternd erwartete sie seinen A n griff. Wie hypnotisiert starrte sie in die rotglühenden Augen, die ihren Blick festhielten. Die Pupillen erweiterten sich und ihr Geist versank darin, tauchte in eine Welt unvo r stellbarer Grausamkeit ein. Die Szenen, die sich im Zeitraffer vor ihr abspulten, waren b e ängstigend real. Sie sah, wie der Wolf sich auf ein Mädchen stürzte. Seine Fangzähne verbissen sich in ihrer Kehle und zerfetzten diese in seiner Blutgier. Die Arme des Mädchens, die eben noch ve r sucht hatten, die Bestie von sich zu stoßen, sanken schlaff herab. Der Blick des Mädchens war starr. Dann wechselte das Bild abrupt. Auf einem steinernen Altar lag ein Mann mit angs t geweiteten Augen. Seine nackte Brust war blutbesudelt und mit unzähligen, tie f klaffenden Wunden übersät. Das Blut schoss in einer Fontäne aus seiner Hal s schlagader, das ein Mann in weißer Kutte mit einem Pokal auffing. Amber ahnte, er würde das Blut des Geopferten trinken wollen. Von Entsetzen gepackt, ve r suchte sie sich von diesen Bildern zu befreien, aber irgendeine Kraft kontro l lierte ihr Hirn.
Plötzlich hörte sie einen schrillen
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