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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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tapferen Krieger, die sich zur Verteidigung des Landes erhoben, das wir ihnen gestohlen haben.
    Wir kauften Wanderführer, Sonnenbrillen, Rucksäcke, Feldflaschen, Ferngläser, Schlafsäcke und ein Zelt. Dann arbeitete ich noch anderthalb Wochen in der Umzugsfirma meines Freundes Stan, bis ein Vetter von ihm für den Sommer in die Stadt kam, um meine Stelle zu übernehmen, und ich mich guten Gewissens zurückziehen konnte. Barber und ich speisten ein letztes Mal in New York zu Abend (Cornedbeef-Sandwiches im Stage Deli) und kamen gegen neun Uhr in die Wohnung zurück; wir wollten nicht zu spät ins Bett gehen, damit wir am nächsten Morgen früh aufbrechen konnten. Es war Anfang Juli 1971. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, und ich spürte, daß mein Leben in eine Sackgasse geraten war. Als ich im Dunkeln auf der Couch lag, hörte ich Barber auf Zehenspitzen in die Küche gehen und mit Kitty telefonieren. Ich konnte nicht alles verstehen, was er sagte, aber offenbar erzählte er ihr von unserer Reise. «Sicher ist gar nichts», flüsterte er, «aber es könnte ihm guttun. Wenn wir zurückkommen, ist er vielleicht bereit, dich wiederzusehen.» Wen er damit meinte, war unschwer zu erraten. Nachdem er in sein Zimmer zurückgegangen war, machte ich das Licht an und entkorkte noch eine Flasche Wein, aber der Alkohol schien seine Macht über mich verloren zu haben. Als Barber mich um sechs Uhr morgens wecken kam, dürfte ich höchstens zwanzig bis dreißig Minuten geschlafen haben.
    Um Viertel vor sieben waren wir unterwegs. Barber fuhr, und ich saß auf dem Beifahrersitz und trank schwarzen Kaffee aus einer Thermosflasche. In den ersten zwei Stunden war ich nur halb bei Bewußtsein, aber nachdem wir in die freie Landschaft von Pennsylvania gekommen waren, tauchte ich langsam aus meiner Betäubung auf. Von da bis nach Chicago redeten wir ununterbrochen und wechselten uns am Steuer ab, während wir das westliche Pennsylvania, Ohio und Indiana durchquerten. Daß mir das meiste von unseren Gesprächen entfallen ist, liegt vermutlich daran, daß wir ständig von einem Thema aufs andere kamen, etwa so, wie auch die Landschaft unablässig hinter uns verschwand. Ich erinnere mich, daß wir eine Zeitlang über Autos sprachen und wie sie Amerika verändert hätten; wir sprachen von Effing; wir sprachen von Teslas Turm auf Long Island. Ich höre noch, wie Barber, als wir von Ohio nach Indiana kamen, sich räusperte, um zu einer ausführlichen Rede über den Geist von Tecumseh anzuheben, aber sosehr ich mich auch bemühe, ich bringe keinen einzigen Satz mehr davon zusammen. Später, als schon die Sonne zu sinken begann, zählten wir über eine Stunde lang unsere Vorlieben in allen möglichen Lebensbereichen auf: unsere Lieblingsromane, unsere Lieblingsspeisen, unsere Lieblings-Baseballspieler. Es waren bestimmt mehr als hundert verschiedene Kategorien, ein komplettes Register unserer persönlichen Geschmäcker. Ich sagte Robert Clemente, Barber sagte Al Kanine. Ich sagte Don Quixote, Barber sagte Tom Jones. Wir beide fanden Schubert besser als Schumann, aber im Gegensatz zu mir hatte Barber eine Schwäche für Brahms. Andererseits fand er Couperin langweilig, während ich von Les Barricades Mysterieuses nie genug bekommen konnte. Er sagte Tolstoi, ich sagte Dostojewski. Er sagte Bleakhaus, ich sagte Unser gemeinsamer Freund. Einig waren wir uns, daß von allen dem Menschen bekannten Früchten Zitronen den schönsten Geruch hätten.
    Wir schliefen in einem Motel in den Außenbezirken von Chicago. Am nächsten Morgen fuhren wir nach dem Frühstück aufs Geratewohl herum, bis wir ein Blumengeschäft fanden, wo ich zwei gleiche Sträuße für meine Mutter und Onkel Victor kaufte. Barber war seltsam bedrückt, aber das schrieb ich der anstrengenden Fahrt vom Vortag zu und dachte nicht weiter darüber nach. Wir hatten einige Schwierigkeiten, den Westlawn Friedhof zu finden (ein paarmal falsch abgebogen; ein langer Umweg, der uns in die entgegengesetzte Richtung führte), und es war schon fast elf Uhr, als wir durch die Einfahrt fuhren. Weitere zwanzig Minuten brauchten wir, um die Gräber zu finden, und als wir aus dem Wagen in die sengende Sommerhitze stiegen, sagte keiner von uns ein Wort. Einige Grabstellen hinter denen meiner Mutter und meines Onkels hatten vier Männer gerade ein frisches Grab ausgehoben, und wir blieben schweigend ein paar Minuten bei unserem Wagen stehen und sahen zu, wie die Totengräber die Schaufeln auf ihren

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