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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Freund, der eine kleine Umzugsfirma betrieb, Möbel in Treppenhäusern rauf und runter zu schleppen. Ich haßte diese Arbeit, aber sie war, zumindest am Anfang, anstrengend genug, um meine Gedanken zu betäuben. Später, als mein Körper sich etwas an die Plackerei gewöhnt hatte, bemerkte ich, daß ich nur noch einschlafen konnte, wenn ich mich zuvor mit Alkohol narkotisiert hatte. Barber und ich saßen meist bis gegen Mitternacht zusammen und redeten; dann wurde ich im Wohnzimmer allein gelassen und stand vor der Wahl, entweder bis zum Morgengrauen an die Decke zu starren oder mich zu betrinken. Meistens brauchte ich eine ganze Flasche Wein, ehe ich die Augen zumachen konnte.
    Barber hätte mich nicht besser behandeln können, hätte nicht rücksichtsvoller und einfühlsamer sein können, aber ich war in einem so traurigen Zustand, daß ich seine Anwesenheit kaum bemerkte. Kitty war der einzige Mensch, der wirklich für mich existierte, und ihre Abwesenheit war so fühlbar, drängte sich so überwältigend auf, daß ich an nichts anderes denken konnte. Jeder Abend begann mit demselben Ziehen in meinem Körper, demselben atemlosen, rasenden Bedürfnis, wieder von ihr berührt zu werden; ich wußte kaum, wie mir geschah, spürte nur die Attacke an der Innenseite meiner Haut, als ob das Gewebe, das mich zusammenhielt, gleich explodieren würde. Es war Entbehrung in ihrer unmittelbarsten und reinsten Form. Kittys Körper war ein Teil meines Körpers, und ohne sie neben mir fühlte ich mich wie ein ganz anderer Mensch. Wie ein Verstümmelter.
    Nach dem ziehenden Schmerz begannen die Bilder durch meinen Kopf zu laufen. Ich sah Kitty ihre Hand nach mir ausstrecken, ich sah ihren nackten Rücken, ihre Schultern, die Rundung ihres Hinterns, ich sah, wie ihr glatter Bauch sich runzelte, wenn sie sich auf die Bettkante setzte und in ihr Höschen schlüpfte. Es war mir nicht möglich, diese Bilder zu vertreiben, und kaum war das eine aufgetaucht, erzeugte es auch schon das nächste, und all die kleinen, intimen Details unseres gemeinsamen Lebens wurden wieder lebendig. Ich konnte an unser Glück nicht denken, ohne Schmerz zu empfinden, und doch suchte ich beharrlich nach diesem Schmerz, ohne die Verheerungen zu bemerken, die er bei mir anrichtete. Jede Nacht sprach ich mir zu, ich sollte den Hörer abnehmen und sie anrufen, und jede Nacht kämpfte ich gegen die Versuchung, bot meinen ganzen Selbsthaß auf, um mich davon abzuhalten. Nach zwei Wochen dieser Quälerei hatte ich das Gefühl, ich stünde in Flammen.
    Barber war verzweifelt. Er wußte, daß irgend etwas Schreckliches passiert war, aber weder Kitty noch ich verschafften ihm darüber Aufklärung. Anfangs übernahm er die Rolle des Vermittlers; sprach mit einem von uns und berichtete dann dem anderen von dem Gespräch, aber dieses Hin und Her brachte ihn auch nicht weiter. Wann immer er versuchte, uns das Geheimnis zu entlocken, gaben wir ihm jeweils die gleiche Antwort: Ich kann es Ihnen nicht sagen; fragen Sie den anderen. Barber zweifelte nie daran, daß Kitty und ich noch verliebt waren, und unsere Weigerung, aufeinander zuzugehen, verwirrte und enttäuschte ihn. Kitty will, daß Sie zurückkommen, sagte er zu mir, aber sie glaubt nicht mehr daran. Ich kann nicht zurück, erwiderte ich dann. Es gibt nichts, was ich lieber täte, aber es geht nicht. Einmal trieb Barber seine List sogar so weit, daß er uns für denselben Abend zum Essen einlud (ohne jeweils zu erwähnen, daß der andere auch kommen würde), aber sein Plan wurde vereitelt, als Kitty mich das Restaurant betreten sah. Wäre sie nur zwei Sekunden später um die Ecke gekommen, hätte die Sache vielleicht geklappt, aber so konnte sie der Falle aus dem Weg gehen. Anstatt also einzutreten und sich zu uns zu setzen, machte sie einfach kehrt und ging nach Hause. Als Barber sie am nächsten Morgen danach fragte, sagte sie, daß sie von solchen Tricks nichts wissen wolle. «Es liegt bei M. S. den ersten Schritt zu machen», sagte sie. «Ich habe etwas getan, das ihm das Herz gebrochen hat, und ich nehme es ihm nicht übel, wenn er mich nicht mehr sehen will. Er weiß, daß ich es nicht absichtlich getan habe, aber das bedeutet nicht, daß er mir vergeben muß.»
    Danach gab Barber auf. Er spielte nicht länger den Botengänger zwischen uns und ließ die Dinge ihren unheilvollen Lauf nehmen. Kittys letzte Erklärung war typisch für den Mut und die Großzügigkeit, die ich immer an ihr bewundert hatte, und noch

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