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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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grünen Kleintransporter luden und wegfuhren. Ihre Anwesenheit war störend, und Barber und ich waren uns stillschweigend einig, daß wir warten mußten, bis sie weg waren, daß wir das, weswegen wir gekommen waren, nur allein tun konnten.
    Danach ging alles sehr schnell. Wir schritten über den Weg, und als ich die Namen meiner Mutter und meines Onkels auf den kleinen Steintafeln erblickte, merkte ich plötzlich, daß mir die Tränen in die Augen traten. Eine so heftige Reaktion hatte ich nicht erwartet, aber sobald mir aufging, daß die beiden da tatsächlich unter meinen Füßen lagen, begann ich unwillkürlich zu zittern. So vergingen einige Minuten, nehme ich an, aber das ist nur eine Schätzung. Ich sehe nicht viel mehr als einen verschwommenen Fleck, ein paar isolierte Gesten im Nebel der Erinnerung. Ich weiß noch, daß ich auf jede Tafel einen Stein legte, und manchmal gelingt es mir, flüchtig zu erkennen, wie ich auf Händen und Knien hocke und verzweifelt Unkraut aus dem wirren Gras rupfe, das die Gräber bedeckte. Wann immer ich mich jedoch nach Barber umschaue, vermag ich ihn nicht in dem Bild unterzubringen. Das scheint mir nahezulegen, daß ich zu erschüttert war, um ihn zu bemerken, daß ich in diesen wenigen Minuten seine Anwesenheit ganz vergessen habe. Die Sache hatte gewissermaßen ohne mich angefangen, und als ich dann dazukam, war sie schon weit fortgeschritten und längst außer Kontrolle geraten.
    Irgendwie war Barber auf einmal wieder neben mir. Wir standen Seite an Seite vor dem Grab meiner Mutter, und als ich meinen Kopf in seine Richtung wandte, sah ich Tränen über seine Wangen laufen. Barber schluchzte, ich hörte die erstickten Klagelaute, die sich seiner Brust entrangen, und da merkte ich, daß das schon eine ganze Weile so ging. Ich glaube, an dieser Stelle habe ich etwas gesagt. Was ist los, oder warum weinen Sie, genau weiß ich das nicht mehr. Jedenfalls hat Barber mich nicht gehört. Er starrte weiter das Grab meiner Mutter an und weinte unter dem unermeßlichen blauen Himmel, als wäre er der letzte Mensch im Universum.
    «Emily...» sagte er schließlich. «Meine liebe kleine Emily... Sieh dich nur an. Wenn du nicht weggelaufen wärst. Wenn du doch nur meine Liebe angenommen hättest. Mein Darling, liebe kleine Emily. Wie sinnlos das ist, wie schrecklich sinnlos.»
    Atemlos stieß er diese Worte hervor, völlig aufgelöst in einem Schmerz, der, sobald er mit der Luft in Berührung kam, in Fragmente zerschellte. Ich hörte ihm zu, als habe die Erde mit mir zu sprechen begonnen, als lauschte ich den Stimmen der Toten aus ihren Gräbern. Barber hatte meine Mutter geliebt. Diese eine unbestreitbare Tatsache brachte alles andere in Bewegung, ins Schwanken, zum Einsturz - die ganze Welt begann sich vor meinen Augen neu zusammenzusetzen. Er hatte es nicht ausgesprochen, aber plötzlich wußte ich es. Ich wußte, wer er war, plötzlich wußte ich alles.
    In den ersten Augenblicken empfand ich nichts als Wut, ein dämonischer Ekel und Abscheu stieg in mir auf. «Wovon redest du eigentlich?» fragte ich ihn, und als Barber mich noch immer nicht ansah, gab ich ihm mit beiden Händen einen Stoß, schlug ihm hart und aggressiv auf seinen dicken rechten Arm. «Wovon redest du eigentlich?» wiederholte ich. «Sag was, du Fettsack, sag was, oder ich hau dir eins aufs Maul.»
    Nun drehte Barber sich zu mir um, aber er konnte nur den Kopf schütteln, als wolle er mir bedeuten, wie sinnlos es wäre, irgend etwas zu sagen. «Großer Gott, Marco, warum hast du mich hierhergebracht?» sagte er schließlich. «Wußtest du denn nicht, daß es so kommen würde?»
    «Wissen!» schrie ich ihn an. «Wie zum Teufel sollte ich denn das wissen? Du hast nie was gesagt, du Lügner. Du hast mich reingelegt, und jetzt soll ich auch noch Mitleid mit dir haben. Und was ist mit mir? Was ist mit mir, du verdammtes Nilpferd!»
    Ich reagierte meine Wut ab wie ein Irrer, schrie mir in der heißen Sommerluft die Lungen aus dem Hals. Nach ein paar Augenblicken begann Barber zurückzuweichen, er taumelte vor meiner Attacke zurück, als könne er es nicht mehr ertragen. Er weinte noch immer, und er hielt sein Gesicht mit den Händen bedeckt, während er, blind für seine Umgebung, wie ein verwundetes Tier heulend und schluchzend unter meinem fortwährenden Geschrei an den Gräbern entlangwankte. Die Sonne stand inzwischen im Zenit, und der ganze Friedhof flimmerte in einem seltsam pulsierenden Gleißen, als ob das Licht

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