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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Argument gegen Barbers Vaterschaft, das ich hatte, und ich wollte mich nicht davon trennen. Solange mir noch ein winziger Rest von Skepsis blieb, brauchte ich nicht zuzugeben, daß irgend etwas passiert sei. Eine überraschende Reaktion, aber wenn ich jetzt darauf zurückblicke, scheint sie mir in gewisser Hinsicht vernünftig. Vierundzwanzig Jahre lang hatte ich mit einer unbeantwortbaren Frage gelebt, hatte ganz allmählich gelernt, dieses Rätsel als zentrale Tatsache meines Lebens zu akzeptieren. Meine Herkunft war ein Geheimnis, und ich würde niemals erfahren, woher ich stammte. Das definierte mich geradezu, und inzwischen war ich an dieses Dunkel gewöhnt, es war für mich eine Quelle von Wissen und Selbstachtung, an der ich festhielt, der ich als einer ontologischen Notwendigkeit vertraute. So sehnlich ich mir auch erträumt haben mag, meinen Vater zu finden, so wenig habe ich doch daran geglaubt. Und nun, da ich ihn gefunden hatte, war die innere Verunsicherung so stark, daß ich mich spontan dagegen wehrte. Ursache dieser Abwehr war nicht Barber, sondern die Situation als solche. Er war der beste Freund, den ich je hatte, und ich mochte ihn sehr. Wenn ich mir irgendeinen Mann auf der Welt zum Vater hätte nehmen können, hätte ich ihn genommen. Und doch brachte ich es nicht über mich. Ein Schock hatte meinen ganzen Organismus erschüttert, und diesen Schlag vermochte ich nicht wegzustecken.
    Wochen vergingen, und am Ende konnte ich meine Augen nicht mehr vor den Tatsachen verschließen. Den Körper unbeweglich in seinem weißen Gipsverband, konnte Barber keine feste Nahrung zu sich nehmen, und langsam, aber sicher begann er an Gewicht zu verlieren. Der Mann war es gewohnt, Tausende von Kalorien täglich in sich hineinzuschlingen, und der abrupte Wechsel seines Speiseplans hatte unmittelbare, merkliche Auswirkungen. Es erfordert harte Arbeit, einen so gewaltigen Speckberg nicht schrumpfen zu lassen, und sobald man seinen Konsum vermindert, schmelzen die Pfunde ziemlich rasch dahin. Anfangs beklagte sich Barber darüber, und mehrmals weinte er sogar vor Hunger, aber nach einer Weile begann er diese erzwungene Hungerkur als eine verkappte Wohltat zu betrachten. «Das bietet mir die Gelegenheit, etwas zu leisten, was ich noch nie zuvor geschafft habe», sagte er. «Stell dir vor, M. S. wenn ich so weitermache, werde ich hundert Pfund los sein, wenn ich hier rauskomme. Vielleicht sogar hundertzwanzig. Ich werde ein neuer Mensch sein. Ich werde mir niemals mehr ähnlich sein müssen.»
    Der Haarkranz um seinen Schädel begann wieder zu wachsen (ein Gemisch aus Grau und Rötlichbraun), und der Kontrast zwischen diesen Farben und der Farbe seiner Augen (ein dunkles, metallisches Blau) schien seinen Kopf mit neuer Klarheit und Bestimmtheit zu akzentuieren, als tauche er nach und nach aus seiner undifferenzierten Umgebung auf. Nach zehn oder zwölf Tagen im Krankenhaus wurde seine Haut totenbleich, doch mit dieser Blässe wurden seine Wangen ungewohnt schmal, und als die Fettzellen und das aufgedunsene Fleisch noch mehr dahinschwanden, kam ein zweiter Barber an die Oberfläche, ein verborgenes Ich, das jahrelang in ihm verschlossen gewesen war. Eine phantastische Verwandlung, und als sie erst einmal so richtig im Gange war, löste sie eine Reihe bemerkenswerter Nebenwirkungen aus. Zunächst fiel es mir kaum auf, aber eines Morgens, da lag er bereits drei Wochen im Krankenhaus, sah ich ihn an und bemerkte etwas Vertrautes an ihm. Es kam wie ein Blitz, und ehe ich richtig erkennen konnte, was ich da gesehen hatte, war es schon wieder weg. Zwei Tage später geschah etwas Ähnliches, aber diesmal dauerte es lang genug, daß ich erahnen konnte, wo jenes Vertraute lokalisiert war: irgendwo um Barbers Augen, vielleicht waren es auch die Augen selbst. Ich fragte mich, ob ich nicht eine gewisse Familienähnlichkeit mit Effing entdeckt hätte, ob etwas an der Art, wie Barber mich da angesehen hatte, mich nicht an seinen Vater erinnerte. Wie auch immer, dieser kurze Augenblick war beunruhigend, und ich konnte den Gedanken daran den ganzen Tag nicht mehr loswerden. Er verfolgte mich wie ein Bruchstück aus einem vergessenen Traum, ein Aufflackern von Erkenntnis, die aus den Tiefen meines Unbewußten aufgestiegen war. Schon am nächsten Morgen begriff ich dann, was ich da gesehen hatte. Ich trat zu meinem täglichen Besuch in Barbers Zimmer, und als er die Augen aufschlug und mich anlächelte, das Gesicht ganz schlaff von all

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