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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Monate, ja Jahre später konnte ich nicht an diese Worte denken, ohne mich über mich selbst zu schämen. Wenn einer von uns gelitten hat, dann war es Kitty, und doch war sie es, die die Verantwortung für das Geschehene auf sich nahm. Hätte ich auch nur den kleinsten Bruchteil ihrer Güte besessen, wäre ich auf der Stelle zu ihr gerannt, hätte mich vor ihr niedergeworfen und sie um Verzeihung angefleht. Aber ich tat nichts. Die Tage vergingen, und noch immer brachte ich es nicht über mich, etwas zu tun. Wie ein verwundetes Tier rollte ich mich in meinem Schmerz zusammen und weigerte mich, mich zu rühren. Ich war vielleicht noch da, aber als anwesend war ich nicht mehr zu bezeichnen.
    Die Rolle als Liebesbote war ihm fehlgeschlagen, doch tat Barber auch weiterhin alles, um mich zu retten. Er versuchte, mich wieder für meine Schreiberei zu interessieren, er diskutierte mit mir über Bücher, er beschwatzte mich, Kinos, Restaurants und Bars, Vorträge und Konzerte zu besuchen.
    Nichts davon half mir sonderlich, aber ich war auch nicht so weit weggetreten, daß ich für seine Bemühungen nicht dankbar war. Er mühte sich sehr, und zwangsläufig begann ich mich zu fragen, warum er meinetwegen derartige Umstände machte. Er war vollauf beschäftigt mit seinem Buch über Thomas Harriot, hockte sechs oder sieben Stunden an einem Stück über seiner Schreibmaschine, aber sobald ich das Haus betrat, schien er bereit, alles fallenzulassen, als ob meine Gesellschaft ihn mehr interessierte als seine Arbeit. Das war mir ein Rätsel, denn ich wußte, daß ich in dieser Zeit ein schrecklicher Gesellschafter war, und ich verstand einfach nicht, wie jemand sich mit mir wohl fühlen konnte. Da mir nichts anderes einfiel, kam ich auf den Gedanken, daß er homosexuell sein könnte: Vielleicht erregte ihn meine Gegenwart so sehr, daß er sich auf nichts anderes mehr konzentrieren konnte. Eine logische Vermutung, an der jedoch nichts war - auch dies nur ein Tappen im dunkeln. Er machte keinerlei Annäherungsversuche, und an der Art, wie er den Frauen auf der Straße nachsah, konnte ich erkennen, daß sein Verlangen ausschließlich auf das andere Geschlecht gerichtet war. Wie aber lautete dann die Antwort? Womöglich Einsamkeit, dachte ich, schlicht und einfach Einsamkeit. Er hatte in New York keine anderen Freunde, und solange er niemand anderen kennenlernte, war er bereit, mich zu nehmen, wie ich war.
    Eines Abends Ende Juni gingen wir in der White Horse Tavern Bier trinken. Es war ein schwülwarmer Abend, wir saßen an einem Tisch im Hinterzimmer (demselben, an dem Zimmer und ich im Herbst 1969 oft gesessen hatten), und über Barbers Gesicht begannen Schweißbäche zu strömen. Er wischte sich mit einem übergroßen karierten Taschentuch ab, trank sein zweites Bier mit ein paar Schlucken runter und schlug dann plötzlich mit der Faust auf den Tisch. «Es ist zu verdammt heiß in dieser Stadt», erklärte er. «Wenn man fünfundzwanzig Jahre nicht mehr hier war, vergißt man, wie die Sommer hier sind.»
    «Warten Sie erst mal bis Juli und August», sagte ich. «Dann geht’s erst richtig los.»
    «Mir reicht’s auch so. Wenn ich noch länger hier bleibe, werde ich in Handtüchern herumlaufen müssen. Die Stadt ist wie ein türkisches Bad.»
    «Sie können doch jederzeit Urlaub machen. Viele Leute verdrücken sich in der warmen Jahreszeit. Gehen Sie in die Berge, ans Meer, wohin Sie wollen.»
    «Es gibt nur eine Gegend, die mich interessiert. Ich denke, Sie wissen, was ich meine.»
    «Aber was ist mit Ihrem Buch? Ich dachte, das wollten Sie erst zu Ende schreiben.»
    «Stimmt. Aber jetzt habe ich es mir anders überlegt.»
    «Das kann nicht nur am Wetter liegen.»
    «Nein, ich brauche eine kleine Pause. Und Sie übrigens auch »
    «Mir geht’s gut, Sol, wirklich.»
    «Ein Tapetenwechsel würde Ihnen guttun. Hier hält Sie ja doch nichts mehr, und je länger Sie bleiben, desto schlechter geht es Ihnen. Ich bin doch nicht blind.»
    «Ich werde darüber hinwegkommen. Bald wird sich das Blatt wenden.»
    «Darauf würde ich keine Wette eingehen. Sie sind fertig, M. S. Sie fressen sich bei lebendigem Leibe auf. Dagegen hilft nur eins, Sie müssen weg von hier.»
    «Ich kann meinen Job doch nicht einfach kündigen.»
    «Wieso?»
    «Zum einen brauche ich das Geld. Zum anderen ist Stan auf mich angewiesen. Es wäre nicht fair, ihn einfach so im Stich zu lassen.»
    «Geben Sie ihm ein paar Wochen vorher Bescheid. Dann kann er sich einen

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