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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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zu stark geworden wäre, um noch real zu sein. Ich sah Barber noch ein paar Schritte machen, dann kam er an den Rand des vorhin ausgehobenen Grabes und geriet aus dem Gleichgewicht. Er muß über einen Stein oder ein Loch im Boden gestrauchelt sein, und plötzlich gaben seine Beine nach. Es ging so schnell. Er stieß beide Arme in die Luft, sie flatterten verzweifelt, wie Flügel, aber er hatte keine Chance mehr, sich wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Eben noch war er da, und nun stürzte er rückwärts in das Grab. Noch ehe ich losrennen konnte, hörte ich seinen Körper mit einem dumpfen Schlag unten aufprallen.
    Er mußte schließlich mit einem Kran herausgehoben werden. Als ich den ersten Blick in das Loch warf, konnte ich nicht erkennen, ob er tot oder lebendig war, und da die Ränder keinerlei Halt boten, fand ich es zu riskant, den Abstieg zu wagen. Er lag vollkommen reglos und mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Wenn ich versuche hinabzusteigen, könnte ich auf ihn fallen, dachte ich, also raste ich mit dem Wagen zum Eingang zurück und bat den Pförtner, telefonisch Hilfe herbeizuholen. Zehn Minuten später war der Unfallwagen da, doch bald sah sich die Besatzung vor demselben Problem, das auch mich bereits abgehalten hatte. Nach einigem Hin und Her bildeten wir eine Kette, und es gelang uns, einen der Assistenzärzte auf den Boden des Grabes hinunterzulassen. Er meldete, daß Barber noch am Leben sei, aber ansonsten hatte er keine guten Neuigkeiten. Gehirnerschütterung, erklärte er, womöglich auch Schädelbruch. Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: «Vermutlich ist auch das Rückgrat gebrochen. Wir müssen äußerst vorsichtig sein, wenn wir ihn hier rausholen.»
    Es war sechs Uhr, als Barber endlich in die Unfallstation des Cook County Hospital geschoben wurde. Er war noch immer bewußtlos, und in den nächsten vier Tagen wies nichts darauf hin, daß er wieder zu sich kommen würde. Die Ärzte operierten ihn am Rücken, legten ihn in einen Streckverband und sagten mir, ich solle die Daumen drücken. Die nächsten achtundvierzig Stunden verbrachte ich im Krankenhaus, doch als sich abzeichnete, daß wir eine lange Durststrecke vor uns hatten, nahm ich Barbers American-Express-Karte und zog in ein nahe gelegenes Motel, das Eden Rock. Eine schauderhafte billige Absteige mit schmierigen grünen Wänden und einem klumpigen Bett, aber ich schlief dort ja nur. Sobald Barber aus seinem Koma erwachte, verbrachte ich täglich achtzehn bis neunzehn Stunden im Krankenhaus, und dies war in den nächsten zwei Monaten meine ganze Welt. Ich habe bei ihm gesessen, bis er starb.
    Während des ersten Monats war es durchaus nicht klar, daß es so schlimm enden würde. In einen riesigen Gipsverband gehüllt, schwebte Barber, von Flaschenzügen getragen, in der Luft, als wolle er den Naturgesetzen trotzen. Er war dermaßen lahmgelegt, daß er nicht einmal den Kopf drehen konnte, und die Nahrung wurde ihm durch Schläuche zugeführt; trotz allem aber machte er Fortschritte, schien er sich zu erholen. Vor allem sei er froh, sagte er mir, daß endlich die Wahrheit herausgekommen sei. Dafür sei ihm auch der Preis, zwei Monate lang im Streckverband zu liegen, nicht zu hoch. «Meine Knochen mögen gebrochen sein», sagte er eines Nachmittags zu mir, «aber mein Herz ist endlich auf dem Weg der Besserung.»
    In diesen Tagen strömte die ganze Geschichte aus ihm heraus, und da er nichts anderes tun konnte als sprechen, bekam ich am Ende eine erschöpfende und sehr exakte Darstellung seines gesamten Lebenslaufs zu hören: sämtliche Einzelheiten seiner Romanze mit meiner Mutter, die deprimierende Geschichte seines Aufenthaltes im YMCA in Cleveland, die darauffolgenden Reisen durch das amerikanische Herzland. Es braucht wohl nicht gesagt zu werden, daß mein Wutausbruch auf dem Friedhof längst vergessen war, aber obwohl praktisch kein Zweifel mehr erlaubt war, zögerte etwas in mir, Barber als meinen Vater zu akzeptieren. Ja, es stand fest, daß er 1946 einmal mit meiner Mutter geschlafen hatte; und ja, es stand auch fest, daß ich neun Monate später geboren wurde; aber wie konnte ich sicher sein, daß Barber der einzige Mann gewesen war, mit dem sie geschlafen hatte? Gewiß war es eher unwahrscheinlich, aber dennoch immerhin möglich, daß meine Mutter zur gleichen Zeit mit zwei Männern verkehrt hatte. Und falls das zutraf, könnte sie ja auch von dem anderen Mann schwanger geworden sein. Es war das einzige

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