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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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sogar meine Arbeit mit dorthin, um inmitten dieses Chaos weiter zu übersetzen. An einem solchen Nachmittag Mitte Oktober geschah es dann, daß ich Kitty Wu endlich wiedersah. Ich kämpfte mich gerade durch eine heikle Passage und bemerkte Kitty erst, als sie bereits auf der Bank neben mir saß. Es war das erste Mal seit Zimmers Vortrag in der Bar, daß ich sie sah, und diese plötzliche Begegnung traf mich ganz unvorbereitet. In den vergangenen Wochen hatte ich mir immer wieder ausgemalt, was für geistreiche Dinge ich ihr sagen würde, wenn wir uns wiedersähen, doch jetzt, da sie leibhaftig da war, bekam ich kaum ein Wort heraus.
    «Hallo, Mr. Schriftsteller», sagte sie. «Schön, dich wieder auf den Beinen zu sehen.»
    Sie trug diesmal eine Sonnenbrille, ihre Lippen waren hellrot geschminkt. Und da ihre Augen hinter den dunklen Gläsern unsichtbar waren, mußte ich sehr an mich halten, ihr nicht auf den Mund zu starren.
    «Eigentlich schreibe ich nicht», sagte ich. «Es ist eine Übersetzung. Damit verdiene ich mir ein bißchen Geld.»
    «Ich weiß. Gestern habe ich David getroffen, und er hat mir davon erzählt.»
    Ganz allmählich fand ich mich in die Unterhaltung hinein. Kitty besaß eine natürliche Begabung, Leute aus der Reserve zu locken, und es war leicht, sich auf sie einzulassen, sich in ihrer Gegenwart wohl zu fühlen. Wie Onkel Victor mir vor langer Zeit einmal gesagt hatte, geht es bei einem Gespräch so zu wie bei einem Ballspiel. Ein guter Partner wirft einem den Ball direkt in den Handschuh, so daß es fast unmöglich ist, ihn nicht aufzufangen; ist er mit Fangen an der Reihe, schnappt er alles, was irgendwie auf ihn zukommt, selbst die schlechtesten, verpatzten Würfe. Und genau das tat Kitty. Sie warf den Ball immer wieder exakt in die Höhlung meines Handschuhs, und wenn ich ihr den Ball zurückwarf, fing sie alles auf, was auch nur entfernt auf sie zukam: Sie sprang hoch, um Bälle zu erwischen, die über ihren Kopf gesegelt kamen, sie duckte sich flink nach links und rechts und stürzte sich mit akrobatischen Verrenkungen nach vorn. Mehr noch, sie war so geschickt, daß sie mir immer das Gefühl vermittelte, ich hätte absichtlich so schlecht geworfen, als hätte ich das Spiel damit nur amüsanter machen wollen. Sie ließ mich besser erscheinen, als ich war, und das stärkte mein Selbstvertrauen, was wiederum dazu beitrug, daß meine Würfe leichter von ihr gefangen werden konnten. Anders gesagt, ich begann mit ihr zu sprechen, nicht mehr nur mit mir selbst, und das bereitete mir größeres Vergnügen als alles, was ich seit langer Zeit erlebt hatte.
    Während wir dort in der Oktobersonne weiterredeten, begann ich nach Mitteln und Wegen zu suchen, unsere Unterhaltung in die Länge zu ziehen. Ich war zu erregt und glücklich, als daß ich mir ihr Ende herbeigewünscht hätte, und die Tatsache, daß Kitty eine große Schultertasche bei sich hatte, aus der oben diverse Tanzklamotten heraussahen - ein Trikotärmel, ein Sweatshirtkragen, ein Handtuchzipfel -, ließ mich befürchten, daß sie noch einen Termin haben und jederzeit aufstehen und davoneilen könnte. Die Luft war ein wenig frisch, und nachdem wir zwanzig Minuten lang auf der Bank gesprochen hatten, sah ich sie fast unmerklich frösteln. Ich nahm all meinen Mut zusammen und bemerkte, es werde allmählich kalt, vielleicht sollten wir in Zimmers Wohnung gehen, da könne ich ihr einen heißen Kaffee machen. Wunderbarerweise nickte Kitty und sagte, sie halte das für eine gute Idee.
    Ich begann den Kaffee zu kochen. Zwischen Wohnzimmer und Küche lag das Schlafzimmer, aber anstatt im Wohnzimmer auf mich zu warten, setzte Kitty sich aufs Bett, so daß wir weiterreden konnten. Die Verlagerung der Szene ins Haus hatte den Ton der Unterhaltung verändert, wir wurden beide ruhiger und vorsichtiger, als ob wir nach einer Interpretation unserer neuen Rollen suchten. Eine unheimliche Erwartung hing in der Luft, und ich war froh, daß mir die Zubereitung des Kaffees Gelegenheit bot, die Verwirrung zu verbergen, die mich plötzlich ergriffen hatte. Es würde etwas geschehen, aber ich hatte zu große Angst, um darüber nachzudenken, denn ich spürte, wenn ich mich jetzt in Hoffnungen erging, konnte die ganze Sache kaputtgehen, bevor sie überhaupt angefangen hatte. Dann wurde Kitty sehr still, sprach zwanzig oder dreißig Sekunden lang kein Wort. Ich hantierte weiter in der Küche herum, machte den Kühlschrank auf und zu, nahm Tassen und Löffel

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