Mond über Manhattan
hängte sein zerfetztes Hemd mitten in sein Zimmer und befestigte daran ein Blatt Papier mit dem Datum dieses Vorfalls: 14. Oktober 1959. Dort blieb es bis an sein Lebensende hängen; ein Denkmal seiner zerstörten Eitelkeit.
Irgendwann starb Kittys Mutter, doch über Ursache und Umstände war Zimmer sich nicht im klaren. Der General war da schon über achtzig und gesundheitlich längst nicht mehr auf der Höhe, leitete aber in einer letzten Aufwallung von Sorge um seine jüngste Tochter deren Unterbringung in einem amerikanischen Internat in die Wege. Kitty war gerade vierzehn, als sie nach Massachusetts kam und ihr erstes Schuljahr an der Fielding Academy antrat. Ihre Persönlichkeit machte es ihr leicht, sich bald anzupassen und einzuleben. Sie spielte Theater und tanzte, schloß Freundschaften und lernte fleißig genug, um anständige Noten zu bekommen. Als ihre vier Jahre dort abgelaufen waren, wußte sie, daß sie nicht mehr nach Japan zurückkehren würde. Übrigens auch nicht nach Taiwan oder sonstwohin. Amerika war ihre Heimat geworden, und durch geschickten Umgang mit dem kleinen Erbe, das ihr nach dem Tod ihres Vaters zufiel, gelang es ihr, die Studiengebühren an der Juilliard zu bezahlen und nach New York umzuziehen. Sie lebte jetzt seit über einem Jahr in der Stadt und fing gerade ihr zweites Studienjahr an.
«Hört sich vertraut an, oder?» fragte Zimmer.
«Vertraut?» sagte ich. «Das ist eine der exotischsten Geschichten, die ich je gehört habe.»
«Nur an der Oberfläche. Wenn man das Lokalkolorit abkratzt, bleibt fast die gleiche Geschichte übrig wie bei allen anderen, die ich kenne. Von ein paar Einzelheiten natürlich abgesehen.»
«Mmm, ja, ich verstehe, was du meinst. Waisen im Sturm, so was in der Richtung.»
«Ganz genau.»
Ich dachte kurz über das nach, was Zimmer gesagt hatte. «Gewiß gibt es da gewisse Ähnlichkeiten», meinte ich schließlich. «Aber glaubst du, daß sie die Wahrheit gesagt hat?»
«Das kann ich unmöglich feststellen. Aber nach dem, was ich bis jetzt von ihr mitbekommen habe, würde es mich ganz schön schockieren, wenn sie gelogen hätte.»
Ich nahm einen Schluck Bier und nickte. Viel später, als ich sie besser kennenlernte, wurde mir klar, daß Kitty niemals die Unwahrheit sagte.
Je länger ich bei Zimmer wohnte, desto unbehaglicher wurde mir zumute. Er bezahlte die Rechnung für meine Wiederherstellung, und obwohl er sich nie darüber beklagte, wußte ich, um seine Finanzen stand es auch nicht so gut, daß er noch viel länger damit fortfahren konnte. Zimmer bekam von seiner Familie in New Jersey eine kleine Unterstützung, mußte aber im wesentlichen für sich selbst sorgen. Um den Zwanzigsten des Monats begann er an der Columbia sein Studium der vergleichenden Literaturwissenschaft. Die Universität hatte ihn mit einem Stipendium in diesen Studiengang gelockt - kostenlosen Unterricht plus zweitausend Dollar aus Fördermitteln -, was damals zwar eine hübsche Summe war, aber kaum ausreichte, um ein Jahr lang davon zu leben. Trotzdem sorgte er weiter für mich, indem er ohne Bedenken seine mageren Ersparnisse angriff. Großzügig, wie Zimmer war, muß doch mehr dahinter gesteckt haben als reiner Altruismus. Früher, während unseres ersten gemeinsamen Jahres als Zimmergenossen, hatte ich immer das Gefühl gehabt, er wäre ein wenig von mir eingeschüchtert, gewissermaßen überwältigt von der schieren Intensität meiner Verrücktheiten. Jetzt, da es mir schlecht ging, sah er womöglich eine Gelegenheit, die Oberhand zu gewinnen, das Konto unserer Freundschaft auszugleichen. Ich bezweifle, daß Zimmer selbst sich dessen bewußt war, doch wenn er jetzt mit mir sprach, hatte seine Stimme einen gewissen nervös-überlegenen Unterton, und es war kaum zu verkennen, daß es ihm Spaß machte, mich aufzuziehen. Ich tolerierte das jedoch, nahm keinen Anstoß daran. Meine Selbstachtung war inzwischen so tief gesunken, daß mir seine ständigen Vorwürfe insgeheim als eine Art ausgleichende Gerechtigkeit, als eine reichlich verdiente Strafe für meine Sünden willkommen waren.
Zimmer war ein kleiner, drahtiger Mensch mit schwarzem Lockenhaar und beherrschter, aufrechter Haltung. Er trug eine Metallbrille, wie sie damals unter Studenten verbreitet waren, und ließ sich einen schütteren Bart wachsen, was ihm das Aussehen eines jungen Rabbi verlieh. Von allen Studenten, die ich an der Columbia kennengelernt hatte, war er der klügste und fleißigste, und er hatte
Weitere Kostenlose Bücher