Mond über Manhattan
ganz offenkundig das Zeug dazu, ein guter Wissenschaftler zu werden, wenn er so weitermachte. Wir hatten beide die gleiche Leidenschaft für obskure und vergessene Bücher (Lykophrons Kassandra, Giordano Brunos philosophische Dialoge, die Notizbücher von Joseph Joubert, um nur einiges von dem zu nennen, was wir gemeinsam entdeckten), doch während ich dazu neigte, mich wahllos und wie besessen für solche Werke zu begeistern, arbeitete Zimmer gründlich und systematisch und drang zu Erkenntnissen vor, die mich oft in Erstaunen versetzten. Dabei war er keineswegs stolz auf seine kritische Urteilskraft, sondern tat es als nebensächlich ab. Zimmers Hauptinteresse galt dem Schreiben von Gedichten, und er verbrachte lange, aufreibende Stunden damit, quälte sich mit jedem Wort, als ob das Schicksal der Welt davon abhinge - und eine vernünftigere Methode gibt es dafür gewiß nicht. Zimmers Gedichte ähnelten in mancher Hinsicht seinem Körper: kompakt, fest gebaut, verschlossen. Seine Ideen waren so dicht ineinander verwoben, daß man sie oft kaum noch ausmachen konnte. Und wenn schon, ich bewunderte die Fremdartigkeit dieser Gedichte und die Dichte ihrer Sprache, die solide war wie ein Feuerstein. Zimmer vertraute auf mein Urteil, und ich antwortete ihm stets so ehrlich wie möglich, wenn er mich danach fragte, ermutigte ihn nach Kräften, nahm aber auch kein Blatt vor den Mund, wenn mir etwas nicht richtig vorkam. Das fiel mir vermutlich leichter, weil ich selbst keine literarischen Ambitionen hatte. Er wußte, ich kritisierte seine Sachen nicht auf Grund irgendeines heimlichen Wettstreits zwischen uns.
Er hatte seit zwei oder drei Jahren eine feste Freundin, ein Mädchen namens Anna Bloom oder Blume, ich weiß nicht genau, wie der Name sich schreibt. Sie war mit Zimmer in derselben Straße eines Vororts von New Jersey aufgewachsen und mit seiner Schwester in eine Klasse gegangen, was heißt, daß sie ein paar Jahre jünger war als er. Ich hatte sie nur ein- oder zweimal gesehen, ein winziges dunkelhaariges Mädchen mit hübschem Gesicht und lebhaftem, überschäumendem Gemüt, und ich hatte den Verdacht, Zimmer mit seiner gelehrsamen Art könnte vielleicht mit ihr überfordert sein. Anfang des Sommers hatte sie sich plötzlich zu ihrem älteren Bruder William davongemacht, der irgendwo im Ausland als Journalist arbeitete, und seitdem hatte Zimmer nichts mehr von ihr gehört - kein Brief, keine Postkarte, nichts. Im Lauf der Wochen geriet er über dieses Schweigen in immer heftigere Verzweiflung. Jeder Tag begann mit dem gleichen Ritual: Zimmer ging die Treppe hinunter und sah im Briefkasten nach. Und jedesmal, wenn er das Haus betrat oder verließ, mußte er zwanghaft den leeren Kasten auf- und zuschließen. Das konnte zu jeder Stunde geschehen, selbst um zwei oder drei Uhr morgens, wenn nicht die geringste Chance bestand, daß neue Post gekommen war. Aber Zimmer hatte nicht die Kraft, der Versuchung zu widerstehen. Oftmals, wenn wir beide, leicht besäuselt vom Bier, aus der White Horse Tavern um die Ecke nach Hause kamen, mußte ich peinlich berührt mit ansehen, wie mein Freund nach seinem Briefkastenschlüssel tastete und dann blindlings die Hand nach etwas ausstreckte, das nicht da war und niemals da sein würde. Vielleicht war das der Grund dafür, warum Zimmer mich so lange in seiner Wohnung duldete. Immerhin hatte er so jemanden, mit dem er reden konnte und der ihn von seinen Problemen ablenkte - einen seltsamen, nicht berechenbaren Pausenclown.
Das änderte aber nichts daran, daß ich ihm auf der Tasche lag, und je länger er sich darüber ausschwieg, desto unwohler fühlte ich mich. Ich nahm mir vor, sobald ich wieder kräftig genug wäre, mir einen Job zu suchen (irgendeinen Job, was, war mir egal) und ihm nach und nach das Geld zurückzuzahlen, das er für mich ausgegeben hatte. Damit wäre das Problem, eine eigene Wohnung für mich zu finden, zwar nicht gelöst gewesen, doch immerhin gelang es mir, Zimmer zu überreden, mich auf dem Boden schlafen zu lassen, so daß er wenigstens wieder in seinem Bett liegen konnte. Ein paar Tage nach diesem Zimmertausch begann er sein Studium an der Columbia. Eines Abends im Verlauf der ersten Woche kam er mit einem dicken Bündel Papier nach Hause und verkündete grimmig, eine Freundin von ihm aus dem französischen Seminar sei mit einer eiligen Übersetzung beauftragt worden, wofür sie aber, wie sich jetzt herausstelle, gar keine Zeit habe. Er habe sie gefragt, ob
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