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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Religion, der nur zwei Mitglieder angehörten. In dieser Frühphase unserer Beziehung brauchten wir einander nur anzusehen, um in Erregung zu geraten. Sobald Kitty in meine Nähe kam, mußte ich an Sex denken. Es war mir unmöglich, meine Hände von ihr fernzuhalten, und je vertrauter mir ihr Körper wurde, desto mehr wollte ich ihn berühren. Einmal gingen wir sogar so weit, es im Anschluß an eine von Kittys Tanzproben zu treiben, und zwar gleich im Umkleideraum, nachdem die anderen gegangen waren. Sie sollte im folgenden Monat bei einer Aufführung mitwirken, und ich besuchte die abendlichen Proben, wann immer ich konnte. Kitty beim Tanzen zu beobachten war fast so gut, wie sie in den Armen zu halten, und ich verfolgte ihren Körper mit fieberhafter Konzentration über die Bühne. Das gefiel mir sehr, gleichzeitig aber verstand ich es nicht. Tanzen war für mich etwas vollkommen Fremdes, etwas, das mit Worten nicht zu erfassen war, und mir blieb nichts anderes übrig, als stumm dort zu sitzen und mich dem Anblick reiner Bewegung hinzugeben.
    Ende Oktober hatte ich die Übersetzung fertig. Ein paar Tage später holte Zimmer von seiner Freundin das Geld ab, und am Abend dieses Tages gingen Kitty und ich mit ihm im Moon Palace essen. Das Restaurant war mein Vorschlag gewesen, und zwar wegen seiner Symbolträchtigkeit und nicht so sehr wegen der Qualität des Essens, aber wir speisten trotzdem gut, da Kitty mit den Kellnern Mandarin redete und Gerichte bestellen konnte, die nicht auf der Speisekarte standen. Zimmer war an diesem Abend gut in Form, predigte in einem fort über Trotzki, Mao und die Theorie der permanenten Revolution, und ich erinnere mich noch, wie Kitty plötzlich ihren Kopf an meine
    Schulter legte, ein bezauberndes, wohliges Lächeln aufsetzte, und wie wir beide uns dann in die Polster unserer Nische zurücklehnten, um Davids Monolog zu lauschen, und zustimmend nickten, als er vor unseren Augen das Dilemma der menschlichen Existenz löste. Es war ein großartiger Augenblick für mich, ein Augenblick wunderbaren Glücks und Gleichgewichts, als hätten meine Freunde sich dort versammelt, um meine Rückkehr in das Land der Lebenden zu feiern. Nachdem die Teller abgeräumt waren, machten wir alle unsere Glücksplätzchen auf und analysierten sie mit spöttischem Ernst. Seltsamerweise kann ich mich an meines erinnern, als hielte ich es noch in der Hand. Der Spruch lautete: «Die Sonne ist die Vergangenheit, die Erde ist die Gegenwart, der Mond ist die Zukunft.» Wie sich herausstellte, sollte ich diesem rätselhaften Satz später noch einmal begegnen, wodurch im nachhinein der Eindruck entstand, als sei der Zufallsfund im Moon Palace mit einer unheimlichen, ahnungsvollen Wahrheit befrachtet gewesen. Aus Gründen, die ich damals nicht näher hinterfragte, steckte ich den kleinen Papierstreifen in meine Brieftasche und trug ihn dann neun Monate mit mir herum, ohne mir dessen bewußt zu sein.
    Am nächsten Morgen begann ich nach einem Job zu suchen. Es ergab sich nichts an diesem Tag, und der folgende verlief genauso ergebnislos. Da mir klar wurde, daß die Zeitungen mir nicht weiterhelfen würden, beschloß ich, zur Columbia zu gehen und mein Glück bei der studentischen Jobvermittlung zu versuchen. Als ehemaliger Student der Universität hatte ich das Recht, diesen Service in Anspruch zu nehmen, und da im Falle einer Vermittlung keine Gebühren zu entrichten waren, schien es recht vernünftig, dort mit der Suche anzufangen. Binnen zehn Minuten nach Betreten der Dodge Hall hatte ich die Lösung meiner Probleme gefunden: Sie war auf eine links unten am Schwarzen Brett befestigte Karteikarte getippt. Die Jobbeschreibung las sich so: «Älterer Herr in Rollstuhl sucht jungen Mann als Hausgenossen. Tägliche Spaziergänge, leichte Sekretariatsarbeiten. $ 50 pro Woche plus Zimmer und Verpflegung.» Dieser letzte Punkt entschied die Sache für mich. Ich konnte nicht nur anfangen, etwas Geld zu verdienen,
    sondern ich würde auch endlich bei Zimmer ausziehen können. Und was noch besser war, ich würde an der Ecke West End Avenue und 84th Street wohnen, also viel näher bei Kitty. Das Ganze schien perfekt. Der Job selbst war zwar nicht gerade das, wovon man begeistert nach Hause berichten konnte, aber das wäre mir ja ohnehin nicht möglich gewesen.
    Da ich fürchtete, jemand anders könnte mir zuvorkommen, rief ich auf der Stelle wegen eines Vorstellungsgesprächs an. Zwei Stunden später saß ich mit meinem

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