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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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zukünftigen
    Arbeitgeber in dessen Wohnzimmer, und um acht Uhr abends rief er mich bei Zimmer an und sagte mir, ich hätte den Job. Er machte Andeutungen, als wäre ihm die Entscheidung
    schwergefallen und als hätte er mich aus mehreren brauchbaren Kandidaten ausgewählt. Letzten Endes bezweifle ich, daß es etwas geändert hätte, aber wenn mir damals schon klar gewesen wäre, daß er mich anlog, hätte ich vielleicht eine bessere Vorstellung davon gehabt, worauf ich mich einließ. Denn in Wahrheit gab es gar keine anderen Kandidaten. Ich war der einzige, der sich um den Job beworben hatte.

 
VIERTES KAPITEL
     
    Als ich Thomas Effing zum erstenmal sah, erschien er mir wie der gebrechlichste Mensch, den ich je gesehen hatte. Nur Knochen und zitternde Haut, saß er in Decken gehüllt in seinem Rollstuhl, sein Körper war zur Seite gesunken wie ein kleines geknicktes Vögelchen. Er war sechsundachtzig Jahre alt, wirkte aber viel älter, wie hundert oder darüber, falls das möglich ist; sein Alter schien nicht mehr in Zahlen zu fassen. Alles an ihm wirkte wie von Mauern umgeben, unzugänglich, sphinxartig in seiner Undurchschaubarkeit. Zwei knotige, leberfleckige Hände hielten die Armlehnen des Stuhls gepackt und flatterten gelegentlich auf, aber das war auch das einzige Anzeichen von bewußtem Leben. Man konnte nicht einmal visuellen Kontakt mit ihm aufnehmen, denn Effing war blind, oder zumindest tat er so, und an dem Tag, an dem ich zum Vorstellungsgespräch in sein Haus kam, trug er zwei schwarze Augenklappen. Wenn ich jetzt so auf diesen Anfang zurückblicke, kommt es mir passend vor, daß er am 1. November stattgefunden hat. Der 1. November: Tag der Toten, der Tag, an dem unbekannter Heiliger und Märtyrer gedacht wird.
    Die Tür zu der Wohnung wurde von einer Frau geöffnet. Es war eine schlampige untersetzte Person undefinierbar mittleren Alters, ihr bauschiges Hauskleid war mit rosa und grünen Blumen bedruckt. Als sie ganz sicher war, daß ich der Mr. Fogg sei, der um ein Uhr wegen eines Gesprächstermins angerufen habe, hielt sie mir ihre Hand hin und verkündete, sie sei Rita Hume, seit neun Jahren Mr. Effings Pflegerin und Haushälterin. Während sie so redete, unterzog sie mich einer gründlichen Untersuchung, musterte mich mit der unverfrorenen Neugier einer Frau, die sich zum erstenmal mit ihrem Versandhaus-Gatten trifft. Ihr Starren hatte jedoch etwas so Unverblümtes und Liebenswertes an sich, daß ich keinen Anstoß daran nahm.
    Es wäre schwer gewesen, Mrs. Hume nicht zu mögen, Mrs. Hume mit ihrem breiten teigigen Gesicht, ihren kräftigen Schultern und ihren gigantischen Brüsten. Brüsten, die so groß waren, daß sie wie aus Zement gegossen schienen. Sie schleppte diese Last mit ausladenden, watschelnden Schritten herum, und als sie mich durch den Flur zum Wohnzimmer führte, konnte ich den Atem durch ihre Nasenlöcher pfeifen hören.
    Es war eine dieser riesigen West-Side-Wohnungen, mit langen Fluren, eichenen Schiebetüren zwischen den Zimmern und Zierleisten an den Wänden. Die Räume waren vollgestopft mit viktorianischem Krempel, und ich hatte Schwierigkeiten, die plötzliche Fülle all der Gegenstände um mich her zu erfassen: die Bücher, Bilder und kleinen Tische, den Wirrwarr von Teppichen, das halbdunkle Holz. Auf halber Höhe des Flurs nahm Mrs. Hume mich beim Arm und flüsterte: «Stören Sie sich nicht daran, wenn er sich ein wenig seltsam aufführt. Er läßt sich oft gehen, aber das hat im Grunde nichts zu bedeuten. Er hat viel durchgemacht. Der Mann, der sich seit dreißig Jahren um ihn gekümmert hat, ist im September gestorben, und es fällt ihm schwer, sich damit abzufinden.»
    Ich spürte, daß ich in dieser Frau eine Verbündete hatte, und das diente mir als eine Art Schutz gegen alles Seltsame, das jetzt gleich passieren mochte. Das Wohnzimmer war ungeheuer groß, die Fenster boten Aussicht auf den Hudson und die New Jersey Palisades dahinter. Effing saß mitten im Zimmer in seinem Rollstuhl, gegenüber einem Sofa, dazwischen stand ein niedriger Tisch. Vielleicht rührte mein anfänglicher Eindruck von ihm daher, daß er nicht auf uns reagierte, als wir das Zimmer betraten. Mrs. Hume meldete meine Ankunft: «Mr. M. S. Fogg ist zum Vorstellungsgespräch gekommen», aber er sagte kein Wort zu ihr, bewegte keinen einzigen Muskel. Es war eine übernatürliche Trägheit, und im ersten Augenblick hielt ich ihn für tot. Mrs. Hume jedoch lächelte mich nur an und bedeutete

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