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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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sie ihm die Sache abtreten wolle, und sie habe ja gesagt. So also kam dieses Manuskript ins Haus, ein langweiliges Dokument von etwa hundert Seiten über die strukturelle Neuorganisation des französischen Konsulats in New York. Gleich als Zimmer mir davon zu erzählen begann, erkannte ich, daß sich mir hier eine Chance bot, mich nützlich zu machen. Mein Französisch sei genauso gut wie seins, erklärte ich, und da ich zur Zeit nicht gerade von Pflichten erdrückt würde, könnte er die Übersetzung doch einfach mir überlassen. Zimmer erhob Einwände, aber damit hatte ich gerechnet, und allmählich rang ich seinen Widerstand nieder. Ich sagte, ich wolle meine Schuld bei ihm begleichen, und schneller und praktischer als mit dieser Arbeit sei das kaum zu machen. Das Geld dafür, zwei- bis dreihundert Dollar, sollte er bekommen, und damit wären wir wieder quitt. Dieses letzte Argument überzeugte ihn schließlich. Zimmer genoß zwar die Rolle des Märtyrers, aber sobald er begriff, daß mein eigenes Wohlbefinden auf dem Spiel stand, gab er nach.
    «Gut», sagte er, «ich denke, wir könnten uns das Geld teilen, wenn es dir so wichtig ist.»
    «Nein», sagte ich, «du verstehst noch immer nicht. Das ganze Geld geht an dich. Alles andere wäre doch sinnlos. Du sollst jeden Penny bekommen.»
    Ich bekam, was ich wollte, und zum erstenmal seit Monaten hatte ich das Gefühl, mein Leben habe wieder einen Sinn. Zimmer stand früh auf, um zur Columbia zu gehen, und für den Rest des Tages war ich mir selbst überlassen, konnte mich an seinen Schreibtisch setzen und ungestört arbeiten. Der Text war grauenhaft, ein Schwall von bürokratischem Kauderwelsch, aber je mehr Schwierigkeiten ich damit hatte, desto trotziger vertiefte ich mich hinein und ließ erst locker, wenn durch die unbeholfenen, verstümmelten Sätze so etwas wie eine Spur von Sinn zu schimmern begann. Eben die Schwierigkeit der Aufgabe machte mir Mut. Wäre die Übersetzung einfacher gewesen, hätte ich nicht das Gefühl gehabt, eine angemessene Buße für die Fehler meiner Vergangenheit zu leisten. Der Wert dieses Unterfangens lag also gewissermaßen in seiner völligen Sinnlosigkeit. Ich kam mir vor wie jemand, der zu harter Zwangsarbeit in einer Sträflingskolonne verurteilt worden war. Meine Aufgabe bestand darin, Steine mit einem Hammer in kleinere Steine zu klopfen und diese dann wiederum zu noch kleineren Steinen zu zertrümmern. Diese Mühsal hatte keinen Sinn. Aber daran war mir ja auch gar nicht gelegen. Die Mühe selbst war das Ziel, und ich stürzte mich mit der ganzen Entschlossenheit eines Mustersträflings darauf.
    Bei schönem Wetter machte ich manchmal einen kleinen Spaziergang durch die Nachbarschaft, um den Kopf freizubekommen. Es war jetzt Oktober, in New York der beste Monat des Jahres, und ich genoß es, das frühherbstliche Licht zu studieren, zu beobachten, wie es eine neue Klarheit zu gewinnen schien, wenn es schräg auf den Backsteinhäusern stand. Es war nicht mehr Sommer, aber der Winter kam einem noch sehr weit weg vor, und ich erfreute mich an diesem Schwebezustand zwischen warm und kalt. Wohin auch immer ich in diesen Tagen ging, allenthalben wurde von den Mets gesprochen. Es war eine jener seltenen Zeiten von Einmütigkeit, in denen jedermann nur eins im Kopf hat. Auf den Straßen liefen die Leute mit Transistorradios herum und hörten die Übertragungen von den Spielen, große Menschenmengen versammelten sich vor den Schaufenstern der Elektrogeschäfte, um das Geschehen auf stummen Bildschirmen zu verfolgen, jähe Jubelrufe ertönten aus Eckkneipen, aus Fenstern, von unsichtbaren Dächern. In den Playoffs ging es gegen Atlanta, dann in der World Series gegen Baltimore. Von acht Spielen in diesem Oktober verloren die Mets nur eins, und nach Beendigung des Abenteuers hielt New York mal wieder eine Konfettiparade ab, diesmal noch verschwenderischer als zwei Monate zuvor beim Empfang der Astronauten. Über fünfhundert Tonnen Papier regneten an diesem Tag auf die Straßen, ein Rekord, der heute noch nicht eingestellt ist.
    Mittags aß ich jetzt häufig am Abingdon Square, einem kleinen Park etwa anderthalb Blocks östlich von Zimmers Wohnung. Es gab dort einen primitiven Kinderspielplatz, und der Kontrast zwischen der toten Sprache des Berichts, den ich übersetzte, und der wilden, ungestümen Energie der um mich herum tobenden und kreischenden Kinder tat mir wohl. Ich konnte mich dabei besser konzentrieren, und mehrmals nahm ich

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