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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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heraus, goß Milch in einen Krug und so weiter. Für einen kurzen Augenblick wandte ich Kitty den Rücken zu, und ehe ich mir dessen richtig bewußt war, war sie vom Bett aufgestanden und in die Küche gekommen. Ohne ein Wort zu sagen, glitt sie hinter mich, schlang ihre Arme um meine Taille und legte ihren Kopf an meinen Rücken.
    «Wer ist das?» sagte ich, als ob ich das nicht wüßte.
    «Die Drachenlady», sagte Kitty. «Sie kommt dich holen.»
    Ich nahm ihre Hände und bemühte mich, nicht zu zittern, als ich die Glätte ihrer Haut erfühlte. «Ich glaube, sie hat mich schon», sagte ich.
    Es gab eine kleine Pause, und dann nahm Kitty mich fester in die Arme. «Du magst mich doch ein bißchen, oder?»
    «Mehr als nur ein bißchen. Das weißt du. Viel mehr als nur ein bißchen.»
    «Ich weiß gar nichts. Ich habe zu lange gewartet, um noch etwas zu wissen.»
    Die ganze Szene hatte etwas Unwirkliches. Ich wußte, sie war wirklich, zugleich aber übertraf sie die Wirklichkeit, glich eher einer Projektion dessen, was ich von der Wirklichkeit erwartete, und dies in einem Maß, wie ich es noch nie erlebt hatte. Mein Verlangen war sehr heftig, ja überwältigend, doch allein Kitty ermöglichte mir, es zu artikulieren. Auf ihre Reaktion, auf ihr sachtes Drängen und ihre wissenden Gebärden, auf ihr entschlossenes Handeln kam alles an. Kitty hatte keine Angst vor sich selbst, sie lebte unbefangen und ganz natürlich in ihrem Körper. Vielleicht kam das daher, daß sie Tänzerin war, aber viel wahrscheinlicher verhielt es sich umgekehrt. Sie konnte tanzen, weil sie an ihrem Körper Freude hatte.
    Wir liebten uns mehrere Stunden lang im schwindenden Licht des Nachmittags in Zimmers Wohnung. Es war ohne Frage eins der denkwürdigsten Dinge, die ich jemals erlebt habe, und heute glaube ich, daß es mich von Grund auf verändert hat. Ich rede jetzt nicht bloß von Sex oder dem Wandel der Begierden, sondern von einem dramatischen Einstürzen innerer Mauern, einem Erdbeben im Herzen meiner Einsamkeit. Ich hatte mich so an das Alleinsein gewöhnt, daß ich so etwas für vollkommen ausgeschlossen gehalten hatte. Ich hatte mich mit einem bestimmten Leben abgefunden, und plötzlich war aus völlig unerfindlichen Gründen diese schöne Chinesin wie ein Engel aus einer anderen Welt vor mir herabgesunken. Es wäre unmöglich gewesen, sich nicht in sie zu verlieben, unmöglich, nicht von der simplen Tatsache hingerissen zu sein, daß sie da war.
    Danach waren meine Tage ziemlich ausgefüllt. Vormittags und nachmittags arbeitete ich an der Übersetzung, und abends fuhr ich meist hinauf in das Viertel um die Columbia und Juilliard, um mich mit Kitty zu treffen. Probleme gab es dabei nur, weil wir kaum Gelegenheit hatten, miteinander allein zu sein. Kitty lebte in einem Wohnheimzimmer, das sie mit einer anderen Studentin teilte, und in Zimmers Wohnung fehlte die Tür zwischen Schlaf- und Wohnzimmer. Selbst wenn es dort eine Tür gegeben hätte, wäre es undenkbar gewesen, Kitty dorthin mitzunehmen. Zimmers Liebesleben lag damals so im argen, daß ich das nicht übers Herz gebracht hätte: ihn mit den Geräuschen unseres Liebesspiels zu behelligen, ihm unser Stöhnen und Seufzen aufzudrängen, wenn er im Nebenzimmer saß. Ein paarmal ging die Mitbewohnerin abends aus, und wir nutzten ihre Abwesenheit, um Kittys schmales Bett in Anspruch zu nehmen. Mehrere Male gelang es uns auch, uns in leeren Wohnungen zu treffen. Kitty arrangierte die Einzelheiten dieser Begegnungen, wandte sich an Freunde und Freunde von Freunden und bat sie, ihr für ein paar Stunden ein Schlafzimmer zu überlassen. Das alles war ein wenig frustrierend, zugleich aber auch erregend, eine Quelle der Lust, die unsere Leidenschaft durch das Element der Gefahr und Unsicherheit noch erhöhte. Wir riskierten Sachen miteinander, die mir heute unmöglich vorkommen, gingen haarsträubende Wagnisse ein, die uns in die peinlichsten Verlegenheiten hätten bringen können. Einmal zum Beispiel ließen wir einen Fahrstuhl zwischen den Stockwerken anhalten, und während die Hausbewohner ob der Verzögerung wütend klopften und herumschrien, zog ich Kitty Jeans und Schlüpfer herunter und brachte sie mit der Zunge zum Orgasmus. Ein andermal machten wir es während einer Party auf dem Boden des Badezimmers; wir hatten die Tür hinter uns abgeschlossen und nahmen keine Notiz von den Leuten, die im Flur Schlange standen, um aufs Klo zu gehen. Es war erotische Mystik, eine geheime

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