Mond über Manhattan
ich ihn, warum er nicht auf dem Land lebte. Da kannte ich ihn noch nicht gut, es war Ende November, Anfang Dezember, glaube ich, und ich hatte noch keine Angst, ihm Fragen zu stellen. Da ihm der Park doch soviel Vergnügen zu bereiten scheine, sagte ich, sei es schade, daß er nicht ständig von der Natur umgeben sein könne. Er wartete lange, bevor er mir antwortete, so lange, daß ich schon dachte, er habe meine Frage gar nicht gehört. «Das kenne ich bereits», sagte er schließlich. «Das kenne ich, und jetzt ist es alles in meinem Kopf. Ich habe ganz allein mitten im Nirgendwo gelebt, monatelang, viele Monate lang... ein ganzes Leben lang. Wenn man das einmal hat, Junge, vergißt man es nie. Ich brauche nirgendwo mehr hinzugehen. Sobald ich anfange, daran zu denken, bin ich wieder da. Ich bringe noch heute die meiste Zeit dort zu - weit draußen, mitten im Nirgendwo.»
Mitte Dezember verlor Effing plötzlich das Interesse an Reisebüchern. Wir hatten bis dahin ein knappes Dutzend davon gelesen und kämpften uns gerade durch Frederick S. Dellenbaughs Canyon-Durchquerung (ein Bericht über Powells zweite Colorado-Expedition), als er mich mitten in einem Satz unterbrach und erklärte: «Ich denke, das reicht, Mr. Fogg. Es wird ziemlich langweilig, und wir haben keine Zeit zu verschwenden. Es gibt noch anderes zu tun, Geschäfte sind zu erledigen.»
Ich hatte keine Ahnung, von was für Geschäften er sprach, aber ich stellte das Buch gern ins Regal zurück und wartete auf seine Anweisungen. Die erwiesen sich als ziemlich enttäuschend. «Gehen Sie runter an die Ecke», sagte er, «und kaufen Sie die New York Times. Mrs. Hume wird Ihnen das Geld geben.»
«Ist das alles?»
«Das ist alles. Und beeilen Sie sich. Mit der Trödelei ist jetzt Schluß.»
Bis dahin hatte Effing nicht das geringste Interesse an irgendwelchen aktuellen Nachrichten gezeigt. Mrs. Hume und ich unterhielten uns manchmal beim Essen über diese oder jene Neuigkeit, aber der Alte beteiligte sich nie daran, nicht einmal mit dem kleinsten Kommentar. Jetzt aber wollte er gar nichts anderes mehr hören, und in den nächsten zwei Wochen war ich jeden Vormittag damit beschäftigt, ihm Artikel aus der New York Times vorzulesen. Hauptsächlich Berichte vom Vietnamkrieg, aber auch anderes interessierte ihn: Kongreßdebatten, Großbrände in Brooklyn, Messerstechereien in der Bronx, Börsenkurse, Buchbesprechungen, Basketballergebnisse, Erdbeben. Nichts davon schien dem dringenden Tonfall gerecht zu werden, mit dem er mich beim erstenmal nach der Zeitung geschickt hatte. Effing war eindeutig auf etwas Bestimmtes aus, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was es war. Er näherte sich seinem Ziel auf Umwegen, schlich um seine Absichten herum wie die Katze um die Maus. Zweifellos versuchte er mich zu verwirren, gleichzeitig aber war seine Strategie so durchsichtig, daß man glauben konnte, er wolle mich auf diese Weise warnen, auf der Hut zu sein.
Zum Abschluß unserer vormittäglichen Nachrichtenstunden gab es jedesmal eine gründliche Durchsicht der Seiten mit den Nachrufen. Diese schienen Effing stärker zu fesseln als die anderen Artikel, und manchmal erstaunte mich die Konzentration, mit der er der farblosen Prosa dieser Berichte lauschte. Industriemagnaten, Politiker, Werbeleute, Erfinder, Stummfilmstars: sie alle beschäftigten seine Neugier gleichermaßen. Die Tage vergingen, und ganz allmählich nahmen die Nachrufe immer mehr Raum in unseren Sitzungen ein. Manche davon ließ er mich zwei- oder dreimal lesen, und an Tagen, an denen nur wenige Todesfälle zu melden waren, mußte ich ihm die bezahlten Anzeigen vorlesen, die unten, auf der Seite in edler Type abgedruckt waren. George Soundso, neunundsechzig, geliebter Ehemann und Vater, betrauert von seinen Anverwandten und Freunden, wird am heutigen Nachmittag um ein Uhr auf dem Friedhof Unserer Schmerzensreichen Muttergottes zur ewigen Ruhe gebettet. Effing schien dieser öden Litaneien nie müde zu werden. Nachdem er sie last zwei Wochen lang immer bis zum Ende aufgespart hatte, gab er das Versteckspiel schließlich auf und bat mich, gleich als erstes die Seite mit den Nachrufen aufzuschlagen. Ich äußerte mich nicht zu dieser Umkehrung der Reihenfolge, doch als wir die Todesnachrichten studiert hatten und er danach weiter nichts hören wollte, wurde mir klar, daß wir endlich einen Wendepunkt erreicht hatten.
«Wir wissen jetzt, wie sich so was anhört, oder, Junge?» sagte
er.
«Das
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