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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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veränderten, wie ihr Anblick sich wandeln konnte durch das, was um sie herum geschah: einen vorbeigehenden Passanten, einen plötzlichen Windstoß, eine seltsame Reflexion. Alles war ständig in Fluß, und wenn sich auch zwei Backsteine in einer Mauer sehr ähnlich sehen mochten, so konnten sie doch nie als identisch aufgefaßt werden. Noch genauer gesagt: derselbe Backstein war eigentlich nie derselbe. Er verschliß, zerfiel unmerklich unter den Einwirkungen von Atmosphäre, Kälte und Hitze, von Stürmen, die ihn attackierten, und am Ende, wenn man ihn über die Jahrhunderte betrachten könnte, wäre er einmal nicht mehr da. Alle leblosen Dinge lösten sich auf, alle lebenden Dinge starben. Mir begann jedesmal der Kopf zu schwirren, wenn ich daran dachte und mir die hektischwilden Bewegungen der Moleküle vorstellte, das unablässige Explodieren der Materie, die Kollisionen, das Chaos, das unter der Oberfläche aller Dinge brodelte. Wie Effing mich bei unserer ersten Begegnung gewarnt hatte: man soll nichts für selbstverständlich nehmen. Früher war ich gleichgültig und unachtsam gewesen, jetzt durchlief ich eine Phase äußerster Wachsamkeit. Meine Beschreibungen wurden übermäßig exakt, ich mühte mich verzweifelt, jede denkbare Nuance dessen zu erfassen, was ich sah; in dem verrückten Wahn, nichts auslassen zu wollen, häufte ich Unmengen von Details an. Die Worte schossen mir aus dem Mund wie Maschinengewehrkugeln, wie das Stakkato einer Schnellfeuerattacke. Ständig mußte Effing mich mahnen, langsamer zu sprechen, beklagte sich, daß er mir nicht folgen könne. Das lag nicht so sehr an meinem Vortragsstil als vielmehr daran, wie ich überhaupt an die Sache heranging. Ich häufte viel zu viele Wörter übereinander und warf so kein Licht auf den betreffenden Gegenstand, sondern verdunkelte ihn, begrub ihn unter einer Lawine von Spitzfindigkeiten und geometrischen Abstraktionen. Ich hatte vor allem daran zu denken, daß Effing blind war. Meine Aufgabe bestand nicht darin, ihn mit langwierigen Katalogisierungen zu ermüden, sondern ihm zu helfen, die Dinge vor seinem inneren Auge zu sehen. Da spielten die Worte letztlich gar keine Rolle. Sie sollten ihn nur befähigen, die Gegenstände so rasch wie möglich wahrzunehmen, und zu diesem Zweck mußte ich sie im gleichen Augenblick, in dem sie ausgesprochen wurden, schon wieder vergessen machen. Ich brauchte Wochen harter Arbeit, um meine Sätze zu vereinfachen und das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen zu lernen. Ich fand heraus, daß die Ergebnisse um so glücklicher ausfielen, je mehr Luft ich um einen Gegenstand ließ, denn dies gestattete Effing, die entscheidende Arbeit selbst zu leisten: sich auf der Grundlage einiger Hinweise ein Bild zu machen, seinen Geist auf etwas zugehen zu fühlen, das ich ihm beschrieb. Entsetzt über meine anfänglichen Darbietungen, begann ich zu üben, wann immer ich allein war, zum Beispiel ging ich nachts im Bett die Gegenstände in meinem Zimmer durch und versuchte meine Technik daran zu verbessern. Je härter ich arbeitete, desto ernster nahm ich meinen Job. Ich sah darin nicht mehr eine ästhetische, sondern eine moralische Aufgabe, und allmählich ärgerte ich mich nicht mehr über Effings Kritik, sondern fragte mich, ob seine Ungeduld und Unzufriedenheit nicht am Ende einem höheren Zweck dienen könnten. Ich war ein Mönch, der nach Erleuchtung strebte, und Effing war mein härenes Hemd, die Peitsche, mit der ich mich züchtigte. Ich glaube, es stand außer Frage, daß ich mich verbesserte, aber das bedeutet nicht, daß ich jemals gänzlich mit meinen Bemühungen zufrieden war. Dafür stellten die Worte zu hohe Ansprüche; man versagt zu häufig, als daß man über einen gelegentlichen Erfolg frohlocken könnte. Im Lauf der Zeit wurde Effing meinen Beschreibungen gegenüber nachsichtiger, aber ob das bedeutete, daß sie seinen Vorstellungen näher kamen, kann ich nicht sagen. Vielleicht hatte er die Hoffnung aufgegeben, vielleicht begann er das Interesse zu verlieren. Ich konnte das nur schwer feststellen. Womöglich lief es einfach darauf hinaus, daß er sich an mich gewöhnte.
    Während des Winters beschränkten wir unsere Spaziergänge meist auf die unmittelbare Nachbarschaft. West End Avenue, Broadway, die Querstraßen in den Siebzigern und Achtzigern. Viele Leute, denen wir begegneten, erkannten Effing, und ganz wider mein Erwarten schienen sie sich zu freuen, ihn zu sehen. Manche blieben sogar stehen, um

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