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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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will ich meinen», antwortete ich. «Wir haben bestimmt genügend davon gelesen, um uns über die grobe Richtung im klaren zu sein.»
    «Ich gebe zu, es ist deprimierend. Aber ich glaubte, ein wenig Recherche könnte vor Beginn der Arbeit an unserem Projekt nicht schaden.»
    «Unserem Projekt?»
    «Meine Zeit ist abgelaufen. Das sieht doch jeder Idiot.»
    «Ich erwarte nicht, daß Sie ewig leben, Sir. Aber Sie haben bereits so viele Leute überlebt, und es besteht kein Grund zu der Annahme, daß Sie das nicht noch eine ganze Weile fortsetzen könnten.»
    «Schon möglich. Aber wenn ich mich irre, wäre es das erste Mal in meinem Leben, daß ich nicht recht behalte.»
    «Sie sagen also, Sie wissen es.»
    «Richtig, ich weiß es. Hundert kleine Zeichen haben es mir verraten. Meine Zeit läuft ab, und wir müssen damit anfangen, bevor es zu spät ist.»
    «Ich verstehe noch immer nicht.»
    «Mein Nachruf. Wir müssen jetzt anfangen, ihn zusammenzustellen.»
    «Ich habe noch nie gehört, daß jemand seinen eigenen Nachruf geschrieben hat. Das sollen andere Leute für Sie tun - wenn Sie gestorben sind.»
    «Ja, wenn sie die Tatsachen kennen. Aber was ist, wenn zufällig keine vorliegen?»
    «Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Sie wollen ein paar notwendige Informationen zusammenstellen.»
    «Ganz recht.»
    «Aber wie kommen Sie darauf, daß jemand das drucken will?»
    «Man hat es vor zweiundfünfzig Jahren gedruckt. Ich wüßte nicht, warum man sich nicht darauf stürzen sollte, es noch einmal zu tun.»
    «Ich kann Ihnen nicht folgen.»
    «Ich war tot. Oder druckt man vielleicht Nachrufe auf Lebende? Ich war tot, jedenfalls hielt man mich für tot.»
    «Und Sie haben sich nicht dazu geäußert?»
    «Ich wollte nicht. Es gefiel mir, tot zu sein, und nachdem die Zeitungen von meinem Tod berichtet hatten, war es mir möglich, tot zu bleiben.»
    «Dann müssen Sie ein bedeutender Mann gewesen sein.»
    «Ein sehr bedeutender.»
    «Wieso habe ich dann noch nie von Ihnen gehört?»
    «Ich hatte einen anderen Namen. Den habe ich nach meinem Tod abgelegt.»
    «Und wie war der?»
    «Weibisch. Julian Barber. Habe ich nie ausstehen können.»
    «Von einem Julian Barber habe ich auch noch nie etwas gehört.»
    «Das ist auch zu lange her, als daß sich noch jemand daran erinnern würde. Ich rede von der Zeit vor fünfzig Jahren, Fogg. Neunzehnhundertsechzehn, neunzehnhundertsiebzehn. Ich geriet in Vergessenheit, wie man so sagt, und bin nicht wiederaufgetaucht.»
    «Was haben Sie gemacht, als Sie noch Julian Barber hießen?»
    «Ich war Maler. Ein großer amerikanischer Maler. Hätte ich damit weitergemacht, wäre ich wahrscheinlich als der bedeutendste Künstler meiner Zeit angesehen worden.»
    «Das nenne ich bescheiden.»
    «Ich setze Sie nur von den Tatsachen in Kenntnis. Meine Karriere war zu kurz, und ich habe nicht genug Bilder gemalt.»
    «Wo sind die Bilder jetzt?»
    «Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Alle weg, nehme ich an, haben sich in Luft aufgelöst. Interessiert mich jetzt auch nicht.»
    «Warum möchten Sie dann Ihren Nachruf schreiben?»
    «Weil ich bald sterben werde, und dann wird es gleichgültig sein, ob ich das Geheimnis für mich behalte oder nicht. Beim erstenmal hat man die Sache verpfuscht. Vielleicht gelingt es ja, wenn es wirklich darauf ankommt.»
    «Ich verstehe», sagte ich, obwohl ich kein einziges Wort verstand.
    «Meine Beine spielen dabei natürlich eine wichtige Rolle», fuhr er fort. «Sie haben sich doch zweifellos gefragt, was damit los ist. Das tut jeder, ist ja ganz natürlich. Meine Beine. Meine geschrumpelten, nutzlosen Beine. Ich bin nicht als Krüppel auf die Welt gekommen, müssen Sie wissen, das können wir gleich zu Anfang mal klarstellen. Ich war ein munterer Bursche in meiner Jugend, voller Elan und Übermut, bin genauso herumgetobt wie alle anderen. Und zwar auf Long Island, in dem großen Haus, wo wir die Sommer verbrachten. Jetzt gibt es da draußen nur noch Reihenhäuser und Parkplätze, aber damals war es ein Paradies, nichts als Wiesen und Küste, ein kleiner Himmel auf Erden. Als ich 1920 nach Paris ging, bestand keine Notwendigkeit, irgend jemanden über die Tatsachen aufzuklären. Es war sowieso egal, was die Leute glaubten. Wen kümmerte es, was wirklich geschehen war, solange ich nur überzeugend wirkte? Ich erfand verschiedene Geschichten, eine besser als die andere. Je nach den Umständen und meiner Stimmung zog ich sie in die Länge, veränderte sie jedesmal ein

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