Mond über Manhattan
bißchen, schmückte hier einen Vorfall aus, feilte da eine Einzelheit zurecht, spielte jahrelang damit herum, bis ich die endgültigen Fassungen hatte. Am besten gelungen waren vermutlich die Kriegsgeschichten, die lagen mir besonders. Ich spreche vom Ersten Weltkrieg, dem Großen Krieg, der den Dingen das Herz herausgerissen hat, dem Krieg, der alle Kriege beenden sollte. Sie hätten mich mal von den Gräben und dem Schlamm schwadronieren hören sollen. Wie beredt ich war, wie inspiriert. Ich konnte von der Angst reden wie kein zweiter, vom Dröhnen der Kanonen in der Nacht, von den dämlichen Landsern, die sich in ihre Wickelgamaschen schissen. Schrapnell, erzählte ich, über sechshundert Splitter in meinen Beinen - so war das damals. Die Franzosen haben das gefressen, die konnten gar nicht genug kriegen. Ich hatte auch eine Geschichte vom Lafayette-Geschwader. Der anschauliche, haarsträubende Bericht, wie ich von den Boches abgeschossen wurde. Das war ein Ding, glauben Sie mir, die wollten immer noch mehr davon hören. Schwierig war es allerdings, im Kopf zu behalten, welche Geschichte ich wem und wann aufgetischt hatte. Jahrelang kam ich gut damit zurecht, erzählte niemandem beim zweitenmal eine andere Version. Das gab dem Ganzen eine gewisse Spannung, dieses stete Bewußtsein, jederzeit ertappt werden zu können, aus heiterem Himmel von irgendwem als Lügner bezeichnet zu werden. Wenn man schon lügt, sollte man sich selbst dabei auch in Gefahr bringen.»
«Und Sie haben in all diesen Jahren niemandem die wahre Geschichte erzählt?»
«Keiner Menschenseele.»
«Nicht einmal Pavel Shum?»
«Pavel Shum am allerwenigsten. Der Mann war die Diskretion persönlich. Er hat mich nie gefragt, und ich habe ihm nie etwas gesagt.»
«Und jetzt sind Sie bereit dazu?»
«Gemach, Junge, alles zu seiner Zeit. Sie müssen geduldig sein.»
«Aber wieso wollen Sie es mir erzählen? Wir kennen uns doch erst seit ein paar Monaten.»
«Weil mir nichts anderes übrig bleibt. Mein russischer Freund ist tot, und Mrs. Hume eignet sich für dergleichen nicht. Wer bleibt sonst noch, Fogg? Ob es Ihnen gefällt oder nicht, Sie sind der einzige Zuhörer, den ich habe.»
Ich erwartete, daß er gleich am nächsten Vormittag darauf zurückkommen, den Faden wiederaufnehmen und da weitermachen würde, wo wir aufgehört hatten. Das wäre nach den Ereignissen des Vortags nur logisch gewesen, doch war es recht einfältig von mir, von Effing etwas Logisches zu erwarten.
Anstatt sich auch nur mit einem Wort zu unserem gestrigen Gespräch zu äußern, begann er sofort mit einer verwickelten und verwirrenden Erzählung von einem ehemaligen Bekannten, wie es schien, sprang wirr von einem Punkt zum ändern und überschüttete mich mit einem Wirbel von Erinnerungsfetzen, aus denen ich nicht schlau werden konnte. Ich mühte mich nach Kräften, ihm zu folgen, aber es war, als sei er bereits vor mir losgegangen, und als ich mich selber auf den Weg machte, war es zu spät, ihn noch einzuholen.
«Ein Zwerg», sagte er. «Das arme Schwein sah aus wie ein Zwerg. Achtzig, neunzig Pfund, wenn es hoch kam, und dazu dieser versunkene, entrückte Ausdruck in seinen Augen, den Augen eines Irren, ekstatisch und jämmerlich auf einmal. Das war kurz bevor man ihn einsperrte, da habe ich ihn zum letztenmal gesehen. New Jersey. Eine Reise zum Arsch der Welt. Orange, East Orange, scheißegal, wie der Ort hieß. Edison war auch da in dieser Gegend. Kannte Ralph aber nicht, hatte wahrscheinlich nie von ihm gehört. Ahnungsloses Arschloch. Scheiß auf Edison. Scheiß auf Edison und seine gottverdammte Glühbirne. Ralph erzählt mir, ihm ginge das Geld aus. Was hat er denn erwartet, mit acht Bälgern im Haus und einer solchen Frau dazu? Ich tat mein Bestes. Ich war reich damals, Geld war kein Problem. Hier, sage ich und greife in meine Tasche, nimm das, mir macht’s nichts aus. Ich weiß nicht mehr, wieviel es war. Hundert Dollar, zweihundert Dollar. Ralph brach vor Dankbarkeit in Tränen aus, einfach so, stand da vor mir und heulte wie ein kleines Kind. Es war erbärmlich. Könnte kotzen, wenn ich heute daran denke. Einer der größten Männer, die wir je gehabt haben, und da stand er, völlig aufgelöst, kurz davor, den Verstand zu verlieren. Er erzählte mir oft von seinen Reisen in den Westen, wo er wochenlang die Wildnis durchstreifte, ohne eine Menschenseele zu sehen. Drei Jahre war er da draußen. Wyoming, Utah, Nevada, Kalifornien. War damals noch eine
Weitere Kostenlose Bücher